Freitag, 24. Dezember 2010

Strategische Planer in deutschen Regierungszentralen

Vom Münsteraner Politikwissenschaftler Dominic Schwickert ist vor kurzem im VS Verlag das Buch "Strategieberatung im Zentrum der Macht: Strategische Planer in deutschen Regierungszentralen" erschienen (Auszug bei der NRW School of Governance).

Zum Hintergrund des Buches erschien jüngst auch ein interessantes Interview mit Schwickert auf Spreerauschen.net. Er sagt darin mit Bezug zu jüngeren Studien über Politikberatung:
"Insgesamt hatte ich den Eindruck, dass sich die Debatte zu stark auf die Arbeit von externen Organisationen wie Agenturen, Stiftungen, Unternehmensberatungen und Kanzleien fokussiert. (...) Die externe Politikberatungsbrache ist dynamisch und boomt. Und natürlich erregt es die Gemüter, wenn irgendwelche Kreativköpfe aus einer knalligen Werbeagentur oder die hochbezahlten McKinseys und Roland Bergers im Nadelstreifen in die heiligen Regierungshallen einmarschieren. Das hat etwas Glamouröses und gleichzeitig gerade im Hinblick auf Steuergelder etwas Unanständiges. Und obwohl diese Beratungsbeispiele viel Aufmerksamkeit erzeugen, spiegeln sie meines Erachtens nur einen sehr kleinen Teil des deutschen Regierungsalltags wider. So haben es in Deutschland viele externe Politikberater immer noch schwer, im Zentrum der politischen Macht Fuß zu fassen. Grund dafür ist insbesondere der Faktor Vertrauen im Dunstkreis der Regierungschefs.

Interne Beratung besitzt deshalb einen großen Loyalitätsvorschuss gegenüber externer Beratung, weshalb letztere immer nur ergänzend aber niemals ersetzend sein kann. (...) Der Einfluss dieser öffentlichkeitsfernen und geräuschlosen Form der Politikberatung auf die Entscheidungen einer Regierung ist kaum zu überschätzen. Deswegen wollte ich mich tiefergehend mit dem Innenleben von Regierungsorganisationen auseinandersetzen. Ich habe mich gefragt: Wie gelangen innovative Ideen und zukunftsweisende Konzepte zu den politischen Entscheidungsträgern? Wie laufen die regierungsinternen Beratungsprozesse konkret ab? Wer sind die regierungsinternen Strategieberater der Regierungschefs und wie arbeiten sie? Mein erklärtes Ziel war es zunächst, die regierungsinternen Strukturen und Abläufe besser zu verstehen. Darauf aufbauend habe ich mich der Frage gewidmet, wie die Strategieberatung der Regierungschefs optimiert werden kann."

Das Buch geht also davon aus, dass Regierungschefs in den Ländern für eine zukunftsfähige Politikgestaltung  auf anspruchsvolle Strategieberatung durch regierungsinterne Vordenker angewiesen sind. Schwickert hat vor allem Interviews mit den Leitern von Grundsatz- und Planungsreferaten durchgeführt. Den theoretischen Hintergrund bilden die von Praktikern wie Wissenschaftlern geführten Debatten um politische Steuerung und Strategie (z.B. das Buch von Joachim Raschke und Ralf Tils, Politische Strategie: Eine Grundlegung).

In der Berliner Republik hat Dr. Carsten Stender, vormals SPD-Justiziar und in diversen Planungsfunktionen beschäftigt, heute Büroleiter der brandenburgischen Wissenschaftsministerin Martina Münch, das Buch unter dem Titel "Glanz und Elend politischer Planung" rezensiert. Er meint, "offene Worte einiger Planungsreferenten bringen Licht in die Black Box des politisch-administrativen Systems".

Ein namentlich ungenannter Planer bekennt: „Ich glaube, es wäre der Tod einer jeden Planungseinheit, wenn alles, was einmal angedacht wurde, auf den Markt getragen würde.“ Der Leiter eines anderen Planungsreferates ergänzt: „Jeder im Haus weiß, dass es uns Planer gibt. Aber so genau weiß keiner, was wir machen.
Schwickert schöpfe "jede Menge Anschauliches" über die Denkweise der Kernexekutiven: „Die Politik muss ein gewisses populistisches Element innehaben, weil man einfache Geschichten erzählen muss, die den Einzelereignissen Sinn verleihen. Ein interessierter landespolitischer Beobachter sollte auf Anhieb einen Zusammenhang erkennen können. Drei, vier, fünf Projekte, mehr dürfen es nicht sein. Dann sagt man: Aha, bürgerschaftliches Engagement oder Jugend oder demografischer Wandel, dafür macht sich doch unser Ministerpräsident stark.“

Wer eine kohärente Regierungspolitik formulieren wolle, müsse die einzelnen Spiegelstriche der Vorhabenlisten mit langfristigen, übergreifenden Zielen verbinden. Regierungshandeln solle so kommuniziert werden, dass Handlungsfähigkeit und „Themenschneisen“ erkennbar werden. Nun zwängen solche „Leitmelodien“ zur Beschränkung auf zentrale Botschaften, Planungsakteure betrieben daher das Geschäft der „Priorisierung“. Sie reduzierten Komplexität und trennen Wichtiges von Unwichtigem. Auf diese Weise erfährt auch erratisches Geschehen die Anmutung von Ordnung.
Im Idealfall bildeten Planungsreferate eine leistungsfähige Schnittstelle zwischen Verwaltung, Politik und Wissenschaft, so dass neue Ideen in den politischen Prozess diffundieren können. „Ich fordere meine Mitarbeiter auf: Zieht alleine los, hört euch um und macht und tut! In den täglichen Morgenrunden wird dann immer alles zusammengetragen und ausgewertet“, so ein Interviewpartner. „Wir haben eine Antenne in die Ministerien, die Regierungsfraktion und Regierungsparteien, aber auch in Stiftungen, Verbände, Unternehmen und Universitäten.“

Eine zu große Autonomie der Ressorts führe zu Planlosigkeit und Stückwerkspolitik. Andererseits ziehe eine Übersteuerung durch die Staatskanzlei jede Menge interner Konflikte nach sich.

Das Geschäft erfordere also politisches Gespür für das rechte Maß. Häufig beschränke sich die Rolle der Staatskanzleien im Gesamtgefüge der Landesregierung auf Moderation und Konfliktmanagement. Es gelte, regierungsinterne Zentrifugalkräfte in Schach zu halten.
Glaubt man Schwickerts Interviewpartnern, so sind sich die Staatskanzleien dieser Gefahr durchaus bewusst. Machtworte geraten rasch zum Ausdruck von Ohnmacht: „Man muss konsensual arbeiten und die Ressorts mitnehmen, um Erfolg zu haben.“ Es ist vor allem die geringe eigene Problemverarbeitungskapazität der Staatskanzleien, die zum freundlich-kooperativen Dialog mit den Ressorts mahnt: „Die Zentrale kann es sich nicht leisten, gegen die Ressorts zu arbeiten. Dafür reichen die Kapazitäten nicht.“ Unter Hinweis auf die fachliche Expertise und das Detailwissen der Ressorts werden direkte Interventionen in die Ressortzuständigkeiten vermieden. Stattdessen ziehen sich die Planer auf „Querschnittthemen“, „Antreiben“ und „Ideentransport“ zurück.

Haben neue politische Konzepte der Zentrale einen gewissen Reifegrad erreicht, wandert die Federführung in die Ressorts. Wie stellt man aber sicher, dass die von der Regierungszentrale ausgegangenen Impulse nach Auflösung der interministeriellen Arbeitsgruppen nicht versanden? „Je nachdem, mit wem Sie es zu tun haben, ergibt sich ja das Problem, dass die Ressorts das alles gar nicht so spannend finden. Dann müssen Sie die Implementierung schon einigermaßen eng begleiten, damit das nicht in dem Moment ‚abschmiert’, wo die Kollegen in den Häusern denken, sie seien unbeobachtet und könnten das schnell begraben.“ Im operativen Geschäft beweist sich hier die Kontaktpflege zu den Ministerbüros: „Erfolgreiche Steuerung basiert meist auf möglichst langjähriger guter Zusammenarbeit mit den M-Büros. Das kann man nicht anweisen, das kann nur dadurch funktionieren, dass sie im Laufe der Jahre gute und vertrauensvolle Netzwerke aufbauen.“ 
Wer den Berufswunsch „Planungsreferent“ verfolge, sollte eine gewisse charakterliche Schussfestigkeit mitbringen. Mit Ja-Sagern sei der politischen Führung nicht geholfen. Mit notorischen Rechthabern allerdings auch nicht. Ansonsten zählten Eigeninitiative, Diskussionsfreude und eine gewisse Unkonventionalität. Gesucht würden „fundierte Generalisten“, die sich schnell in Themen einarbeiten können und politisches Feingefühl besitzen. Weniger gefragt seien Leute, „die den letzten Kieselstein umdrehen und sich in allen Details auskennen“. Es brauche die Perspektive von gut ausgebildeten Laien, die widerspiegeln können, was in der Bevölkerung ankommt. Der Schlüssel ist die Fähigkeit, die maßgeblichen Informationen zu sammeln, zu strukturieren und zu verdichten.

Das Leitbild sei der wissenschaftsaffine Praktiker: Wissenschaftler im eigentlichen Sinne seien eher ungeeignet, denn – anders als im Wissenschaftsbetrieb – zählten in den Staatskanzleien vor allem Verwertbarkeit und Praxistauglichkeit der Ideen. „Wir betreiben hier keine Forschung. Das machen andere besser. Da gibt es politische Stiftungen und entsprechende Lehrstühle, die produzieren wunderbare Forschungsergebnisse, die wir nutzen können.“

Die Rekrutierungsziele für den Planungsnachwuchs seien: Verwaltungsexterne Befruchtung („keine Verwaltungskarrieren“), Interdisziplinarität („kein Juristenmonopol“), eine hohe Fluktuationsrate („häufige Durchmischung“) und ein möglichst junger Altersdurchschnitt („Team unter 40“).

Das sei zumindest der Anspruch. In der Realität kämpften die Planungsreferate aber mit fehlenden „monetären Leistungsanreizen“, dem Mangel an leistungsgerechter Bezahlung und einer harten Konkurrenz mit attraktiven privaten Arbeitgebern um die kreativen Köpfe.
In den Personalreferaten herrsche demnach oft „ein total überkommenes Denken vor. Viele sind der Auffassung, dass ein Angebot aus dem Öffentlichen Dienst das allergrößte ist, worauf junge Hochschulabsolventen gewartet haben.“

Im Tagesgeschäft angekommen, rängen die Planungsakteure um den Zugang zum Ministerpräsidenten und die gefühlte Länge des Dienstweges. „Wie ernst etwas innerhalb des Hauses genommen wird, hängt immer davon ab, wie der Zugang zum Ministerpräsidenten ist.“  Der Draht zum Büroleiter entscheide, stellt Stender (selbst Büroleiter einer Ministerin) fest. Es zeige sich beispielhaft das Zusammenspiel von Formalität und Informalität in der Kernexekutive: „Wenn jemand ein ganz besonderes Verhältnis zum Büroleiter des Ministerpräsidenten hat und ihm Informationen steckt, wird ein Abteilungsleiter, der von Amtswegen eigentlich Zugriff hätte, ausgebremst. Das ist der diskret-trügerische Charme der Bürokratie.“

Wichtiger noch als die formale Aufhängung sei, so Stender, offenbar die Planungs- und Strategieaffinität des Regierungschefs. Weise der Ministerpräsident selbst eine Neigung zu strategischem Denken auf, stärke dies die Planungseinheit im hausinternen Machtgefüge. Andere Ministerpräsidenten regierten dagegen eher aus dem Bauch heraus oder orientierten sich an der Abarbeitung des Regierungsprogramms. Solche nicht-strategischen Regierungsstile erwiesen sich oft als Sargnägel jeder konzeptionellen Arbeit.

Unter Hinweis auf Brandenburg und Sachsen formuliere Schwickert die These, dass gerade Zeiten großer Herausforderung durch Haushaltskonsolidierung und demografischen Wandel auch Chancen für Erneuerungsprozesse bieten. In deren Windschatten könne sich eine Renaissance der politischen Planung vollziehen.

"Eine solche stärkere Hinwendung erscheint durchaus nötig", meint Stender. Er zitiert aus dem Buch den ehemaligen Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Heinrich Tiemann: politische Grundsatzarbeit und strategische Planung fänden in der heutigen Regierungspraxis kaum noch statt. Seit Jahren gebe es einen fortschreitenden Aderlass an einschlägigen Ressourcen. Im Arbeitsalltag würden die Kapazitäten operativ gebunden. Anschließend fehle es an der strategischen Regierungsplanung.
Planungsakteure scheinen bisweilen so tief in die Tagespolitik involviert, dass sie ihre Kernkompetenz – die professionelle Strategieentwicklung – nur ungenügend einbringen können. In diese Kerbe schlagen auch andere Interviewpartner: „Ich würde mir wünschen, dass wir mehr von diesem Kleinzeug ferngehalten werden, das so etwa 20 Prozent unserer Ressourcen frisst.“ 
Die Praktiker stöhnen, dass ihre Hausspitze immer dann reflexartig auf die Planungsakteure zurückgreife, wenn kein idealer Ansprechpartner im Apparat für ein Querschnittsthema zu finden sei. Sie leiden unter faktischer Allzuständigkeit. Zugespitzt nehmen die Praktiker wahr, dass die Regierungsplanung in ein „Pflicht versus Kür“-Verhältnis gedrängt werde: Strategische Planung finde statt, soweit das operative Tagesgeschäft dafür Raum lässt. Eine Renaissance der politischen Planung müsste dieses Verhältnis umdrehen. Mit Egon Bahr könnten die heutigen Planer dann wieder schwärmen: „Der köstliche Luxus, insgesamt die Themen selbst zu wählen, weitgehend unbelastet von administrativen Pflichten. Die schönste Zeit meines Berufslebens habe ich im Planungsstab genossen.“
Auch Oliver Liedtke von der Robert-Bosch-Stiftung hat das Buch rezensiert. Er kommt zu dem Schluss:
Offen bleibt die Frage, wie viel Anteil ein strategischer Akteur durch Talent, Geschick und Erfahrung an einer guten Strategie eigentlich hat. Hier stößt die politikwissenschaftliche, stark institutionell geprägte Perspektive wahrscheinlich an ihre Grenzen. Dies führt bei Schwickert jedoch keineswegs zu Lücken im Analyseraster, die einen blinden Fleck vermuten ließen. Im Gegenteil: Durch die Dichte des Rasters und die konsequente Anwendung des institutionellen Paradigmas in den Interviews gewinnt die Arbeit an Wert. (...)
In einigen Passagen erkennt man bei Schwickert die gedankliche Nähe zu den beiden Strategieforschern Joachim Raschke und Ralf Tils, die bereits viel Mühe darauf verwendet haben, das weite Feld der politischen Strategie grundlegend und vor allem theoretisch aufzuarbeiten. Insbesondere ihre detaillierte Begriffsbegründung hat zu Recht große Beachtung gefunden. Schwickerts empirische Analyse der strategischen Akteure in den Regierungszentralen auf Länderebene fügt sich nahtlos in diese aktuelle Strategieforschung ein und die im Fazit abgeleiteten fünf Thesen bieten Anknüpfungspunkte für weitere Untersuchungsfragen in diesem wachsenden Forschungszweig.

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