Montag, 28. Juni 2010

Sprengsatz im Hochschulwesen: Konzern knackt Bildungs-TÜV

Im Konzert der hochschulpolitischen Interessenvertretungen hat der Verband der Privaten Hochschulen (VPH) bisher keine allzu große Lobbystärke entwickelt. Andere Wettbewerbsregeln, mehr staatliche Subventionen -- solche Forderungen hinterlassen derzeit kein politisches Echo, schon gar nicht angesichts der Krise im öffentlichen Bildungswesen. Kein Politiker macht sich derzeit allzu laut für die Privaten stark.

Auf dem Sektor der Privathochschulen schlägt nun umso heftiger eine juristische Granate ein, die sein Mitglied, der Bildungs- und Gesundheitskonzern SRH platziert hat: Mit einem überraschenden Gerichtsurteil stellt er das gesamte staatliche System der Akkreditierung von Studiengängen in Frage, das für die Privathochschulen existentiell ist, wie Marion Schmidt von der Financial Times Deutschland berichtet.

Es ist für große Unternehmen gängig, politische Interessenvertretung mit Litigationsstrategien zu verknüpfen. Genau das ist derzeit im Bildungssektor zu beobachten. Das deutsche Akkreditierungssystem (Umsatz der zehn ausführenden Agenturen: 90 Millionen Euro jährlich) ist auch bei öffentlichen Hochschulen als bürokratisch und teuer in Verruf. Aber die meisten Hochschulen arrangieren sich damit und setzen mittelfristig auf eine Reform durch Kultusministerkonferenz und Wissenschaftsrat.

Der Gesundheitskonzern SRH, der sechs Hochschulen betreibt, ließ es darauf nicht beruhen. Da für private Hochschulen an der Akkreditierung zugleich die staatliche Anerkennung hängt, sind die Verfahren für das Bildungsgeschäft lebensnotwendig – oder lebensbedrohlich. Als die Agentur ASIIN in Nordrhein-Westfalen 2008 zwei Studiengänge nicht akkreditierte, zog das Unternehmen vor das Verwaltungsgericht Arnsberg. Und dieses erklärte im Mai 2010 die Praxis der Überprüfung von Studiengängen für verfassungswidrig, gab damit der SRH-Gruppe Recht. Zwar gilt das Urteil erst einmal nur für NRW (wo fast 20% der Studenten "privat" studieren), doch das Akkreditierungssystem ist ein überregionales.

Das Gericht urteilte, dass die Bestimmungen zur Akkreditierung im NRW-Hochschulgesetz verfassungswidrig seien: Das Gesetze enthalte keine Regelungen zu Voraussetzungen, Inhalt und Ziel, Verfahren, Kosten oder Rechtsschutz, es definiere auch nicht ausreichend den juristische Status der Akkreditierungsagenturen – sie sind privatwirtschaftliche Dienstleister. Trotzdem habe das Wissenschaftsministerium wesentliche Entscheidungsrechte und damit den Vollzug staatlicher Akte übertragen. Mit anderen Worten: Die Rechtsgrundlage und damit die Legitimität fehlen. „Das Konstrukt ist rechtlich höchst umstritten“, gab selbst die Schwesteragentur Zeva gegenüber der FTD zu; „Die Gerichtsentscheidung könnte das ganze System aus den Angeln heben.“

Der Fall muss nun vor das Bundesverfassungsgericht. Wenn Karlsruhe der Ansicht der NRW-Richter folge und damit das ganze Akkreditierungsverfahren infrage stelle, „dann haben wir ein Problem“, wurde der Geschäftsführer des Akkreditierungsrats, der die Agenturen zertifiziert und beaufsichtigt, zitiert.

Damit gibt die SRH-Gruppe dem Verband der Privaten Hochschulen neue Munition, der in Abweichung von Hochschulrektorenkonferenz & Co für eigene Reformvorschläge für ein neues Akkreditierungsmodell lobbyiert.

"Schlanker" und "harmonischer" sollen die Verfahren sein, effizient und weniger bürokratisch. „Was wir in Deutschland jetzt brauchen, ist ein deutlich schlankeres Akkreditierungskonzept, mit wirklich objektivierten einheitlichen Standards, mit konsistenten Entscheidungen, mit dafür gut geschulten Gutachtern, ohne Doppelaufwand an allen möglichen Stellen – aber gleichzeitig mindestens auf dem gleichen Qualitätsniveau wie bisher. Diese Reform der Akkreditierung sollte realistisch binnen zwei Jahren möglich sein“, so Harald Melcher, Geschäftsführer der AKAD-Hochschulen, die zum Cornelsen-Bildungskonzern gehören.

Privathochschulen haben viele Forderungen. Die Akkreditierungsverfahren stehen aber als zentrales Wettbewerbsregulativ vorn an: Ihr Verband fordert etwa im Gegensatz zum Wissenschaftsrat, der eine institutionelle Akkreditierung nur für private Hochschulen vorsieht, diese auch für staatliche und ausländische Hochschulen. Auch will der Verband eine angemessene Repräsentanz privater Hochschulen in den Gremien des Wissenschaftsrates, insbesondere im Akkreditierungsausschuss. Internationale institutionelle Akkreditierung, etwa durch die europäische EQUIS oder die amerikanische AASCB für Wirtschaftsfakultäten, solle automatisch zu staatlicher Anerkennung in Deutschland führen (VPH, 2004).

Auch in anderen Bereichen wollen die Privathochschulen Änderungen. Mehr Freiheit und mehr Förderung im Fernstudienwesen (wo die Privaten die Nase vorn haben) wird verlangt, und ebenso wird ein Studienfinanzierungssystem gefordert, das – etwa mit Bildungsgutscheinen oder Studienkonten – den Privaten Zugangschancen zu Staatsgeldern gibt. SRH-Vorstandschef Klaus Hekking formuliert es im Gespräch mit dem Venture Capital Magazin so: „Ich als Staat gebe dir Studierender Geld, damit du dir ein ordentliches Studium finanzieren kannst, und du suchst dir deinen besten Anbieter aus!“

Aufgrund ihrer Skalen- und Verbundeffekte sehen die Großunternehmen hohe Rentabilitätschancen im deutschen Bildungsmarkt, das Wachstum wird z.B. über Private Equity-Fonds (SRH) und Anleihen(Klett) finanziert. Auch über Börsengänge wird nachgedacht, nach dem Vorbild erfolgreicher Gesundheitsunternehmen. Eine börsennotierte Bildungs-AG gibt es in Deutschland noch nicht, aber das ist für die Großen durchaus ein Ziel, wie Hekking von SRH im Venture Capital Magazin zu verstehen gibt. Bevor Hochschulbildung „börsenfähig“ wird, sind jedoch noch einige politische Parameter zu ändern. Es ist zu erwarten, dass die expandieren Privathochschulketten hier nicht locker lassen.

Sonntag, 27. Juni 2010

BP-Einfluss auf Umweltschützer: "ein Schock, der die NGO-Szene verändern wird"?

Das Ölunglück im Golf von Mexiko legt in den USA auch das Beziehungsgeflecht von BP offen. Neu im Fokus: Umweltschutz-NGOs, die lange mit BP kooperierten und Spenden annahmen. In der Krise rächt sich das. Kritiker fragen sich, ob sich Umweltschützer kaufen ließen -- oder zumindest den Schneid abkaufen ließen. Die Enthüllungen führen zur Frage: Ist das "ein Schock, der die NGO-Szene verändern wird"? Und: Sollten NGOs, die mit der Wirtschaft zusammenarbeiten wollen, nur noch auf ehrliche Mittelständler setzen und sich großen Konzernen verweigern?

BP gehört seit langem zu jenen Energiekonzernen, die viel in ihr bürgerschaftliches Engagement und den Dialog im Rahmen der "Corporate Social Responsibility" (CSR) investieren und darüber kommunizieren: im Web, auf Veranstaltungen, in Publikationen, im Web. Das hat viel mit der Strategie "BP = Beyond Petroleum" zu tun, die das Unternehmen in neuen Energiemärkten positioniert und sich nicht nur beim Image, sondern auch im Realgeschäft vom Erdöl wegbewegt. Das hatte Erfolg, BP galt als relativ grün. Aber Kritiker haben BP immer vorgeworfen, damit nur "Greenwashing" zu betreiben, sich also nur ein Öko-Feigenblatt vors Gemächt zu hängen. Mit jedem Öl-Unfall wird die Kritik lauter.

BP hat früh betont, dass es für CSR Grenzen gibt: Ein Unternehmen ist stets zuerst seinen Eigentümern verpflichtet. Es gibt ideologische Grenzen. Ein Unternehmen ist nicht der Staat und hat kein Mandat der Bürger. Es gibt praktische Grenzen, weil ein Unternehmen begrenzte Ressourcen, begrenztes Wissen und begrenzte Reichweite hat. Und es gibt Interessenkonflikte. Allerdings verändern sich die Grenzen, meint BP, und was gestern noch Grenze war, kann morgen ein Startpunkt sein.

Der Konzern hat stets beteuert, mit offenen Karten zu spielen und CSR auch nicht als politisches Vehikel zu instrumentalisieren, sondern CSR als gesellschaftliche Aktivität und Ausdruck politischer Klugheit zu verstehen. Lesenswert dazu: Die Rede von Kommunikationschef Ulrich Winkler zum Thema "Corporate Social Responsibility (CSR) als Lobby-Strategie?" bei "Netzwerk Recherche" von 2008:
Corporate Responsibility formuliert, wie ein Unternehmen sein Geschäft betreiben will. Das ist der Kern. Welchen Anspruch stellen wir an uns? Das ist zunächst mal nicht Lobby, PR oder Marketing; es ist Selbstverfassung. Corporate Responsibility ist Anleitung und Verpflichtung zur Eigenverantwortung eines Unternehmens. Das hat wenig mit Sahnehäubchen, mit Schmuckbeilagen oder Make-ups zu tun. Wir begreifen unseren Code of Conduct als Teil der Geschäftspraxis, als Selbstverpflichtung. Wir messen uns daran. Und werden daran gemessen.

Das tun nicht alle Unternehmen und es tun nicht alle so klar wie wir. Und für diese Redlichkeit muss man keinen Spott ertragen. Man mag finden, dass wir hier und dort unseren Ansprüchen nicht gerecht werden. Traurig genug. Und natürlich gibt es dafür Beispiele, die uns schmerzen. Aber in die Debatte dazu sind wir sehenden Auges gegangen, die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen. Und dafür
würden wir, wenn ich ganz ehrlich sein darf, gerne gelobt und nicht getadelt.
CSR wird gerade in einer Krise wertvoll, weil die Kommunikationskanäle zu den Stakeholder-Gruppen offen sind. CSR wird auch deshalb im Management geschätzt, weil es ein Stück Krisenprävention ist. Die BP-Krise aber zeigt, dass das keine Einbahnstraße ist.

Sollten die NGOs aus der BP-Krise lernen, dass zu große Nähe auf die Dauer riskant ist, dürfte das erhebliche Konsequenzen für die Beziehungen zwischen Wirtschaft und Gesellschaft haben. Und für die Politik. Denn wenn das Vertrauen der NGOs in die Unternehmen sinkt, werden sie sich weniger auf freiwillige Vereinbarungen einlassen -- und bei der Politik wieder stärker gesetzliche Regulierung einfordern. Den Strategen der Konzerne und Wirtschaftsverbände wird das nicht gefallen.

Nun steht BP wieder als klebriger, verantwortungsloser Ölmulti da. Ein Reputationsdesaster. Das zieht manche "Partner" der CSR in den Sog. In den USA muss sich die Umweltschutzorganisation Nature Conservancy über ihre "Partnerschaft" mit BP kritische Fragen gefallen lassen, wie die WamS berichtet, wie schon u.a. die Washington Post zuvor. Die NGO (eine Million Mitglieder) hat seitdem einige Probleme:
Der Imageschaden ist immens. Das Onlineforum ist voll von entrüsteten Kommentaren. Mitglieder kündigen ihren Austritt an, Förderer ziehen ihre Spenden zurück - die Organisation erlebt ihre ganz eigene Öl-Katastrophe.

Denn es geht nicht bloß um gelegentliche Kontakte und ein paar Spenden-Dollars. Ein Sprecher musste einräumen, dass The Nature Conservancy in mehr als 30 Jahren insgesamt 9,9 Millionen Dollar (acht Millionen Euro) von BP erhalten hatte, darunter auch Land für drei Millionen Dollar. Man habe mit BP und staatlichen Stellen zusammengearbeitet, um ökologische Schäden bei der Energiegewinnung möglichst gering zu halten, auch andere Umweltschutzorganisationen seien beteiligt gewesen - die Erklärungsversuche klangen beinahe so hilflos wie jene von BP.

"Im Nachhinein betrachtet, sind wir an die Partnerschaft mit BP wohl zu naiv herangegangen. Wir wollten Positives erreichen und haben dies auch. Doch natürlich werden wir jetzt in Gesamthaftung genommen", sagt Sascha Müller-Kraenner, Europa-Chef der Nature Conservancy, die in Deutschland mit dem Naturschutzbund zusammenarbeitet. "Wir erleben jetzt, wie riskant eine Partnerschaft mit einem solchen Unternehmen sein kann. Es ist ein Schock, der die NGO-Szene verändern wird."
Auch andere NGOs sind betroffen. Conservation International ließ sich Spenden in Höhe von zwei Millionen Dollar von BP überweisen, hatte lange einen BP-Manager im Vorstand. Der Environmental Defense Fund steht ebenfalls in der Kritik.

"Die Grenzen zwischen Gut und Böse scheinen zu verschwimmen", kommentiert das Blatt. Der Politikwissenschaftler Lutz Schrader wird zitiert: "Bis zu den 90er-Jahren agierten NGOs als komplementäre Kraft jenseits von Staat und Unternehmen. Dabei stellten sie die Legitimität der herrschenden Machtverhältnisse eher infrage". Da war die Welt noch klar zwischen Gut und Börse aufgeteilt. "Doch seither wurden sie mehr und mehr von Unternehmen und hierzulande mehr noch von staatlichen Institutionen vereinnahmt." Die WamS legt den Finger in die Wunde:
Die Rolle von Umwelt-, Friedens- oder Antiglobalisierungsorganisationen hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten radikal verändert. Anfangs bestand die Szene aus oppositionellen Gruppen, die mit ihren Protestaktionen oft an der Grenze zur Illegalität operierten. Heute sind viele zu Organisationen mit Pressesprechern und Expertenkadern herangewachsen, die in viele politische Entscheidungsprozesse - und zunehmend auch in unternehmerische - eingebunden werden. Sie haben an Einfluss gewonnen, doch zu welchem Preis?
Greenpeace ist eine der wenigen Organisationen, die nur wenige Kooperationsangebote der Wirtschaft zulassen und gar keine Unternehmensspenden annehmen. Die relativ strikte Kooperationspolitik erlaubt Greenpeace, viel aggressivere Kampagnen gegen Konzerne zu fahren -- und damit eine eigene Massenbasis von Spendern und Unterstützer zu unterhalten und zu mobilisieren. Die Unabhängigkeit ist die Basis für die hohe Glaubwürdigkeit in der Öffentlichkeit. Punktuell setzt sich Greenpeace aber doch mit Unternehmen an einen Tisch -- die Zusammenarbeit mit McDonald's zum Schutz der Regenwälder ist ein Beispiel.

Die meisten anderen Umwelt-NGOs nahmen dagegen das Dialogangebot von Unternehmen wie BPaufgeschlossener an, und viele hatten auch finanziell etwas davon. Als besonders offen für Zusammenarbeit gilt der WWF, der eher als bürgerliche Naturschutzbewegung entstand und nicht als Protestnetzwerk.

Nun wird besonders kritisch diskutiert, ob das alles so weitergehen kann. Die Zeitung zitiert Jürgen Resch, Geschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe:
"Es gehört mittlerweile zur Strategie vieler großer Industriekonzerne, NGOs für ihre Marketingzwecke zu vereinnahmen." Daraus spricht auch Verbitterung, denn die Umwelthilfe war als erste große deutsche Organisation auf die Konzerne zugegangen. Resch erzählt gerne, wie er in den 90er-Jahren Seit an Seit mit der Automobilindustrie und sogar einem schwedischen Mineralölkonzern den schwefelfreien Kraftstoff durchgesetzt habe. "Wer es mit der Nachhaltigkeit ernst meint, der muss mit den Unternehmen zusammenarbeiten - das war von Anfang an unser Credo."

Doch mittlerweile hat Resch einen Teil seines Glaubens an das Gute in den Vorstandsetagen verloren.

"Nachhaltigkeit ist für große Konzerne zunehmend zu einem reinen Kommunikations- und Marketingthema geworden. Die konkreten Taten gehen selten über das hinaus, was betriebswirtschaftlich eh geboten wäre." Resch hat erst kürzlich unschöne Erfahrungen gemacht: So habe er auf eine Zusage aus der Autoindustrie vertraut und diese öffentlich für einen geplanten Verzicht auf Kältemittel gelobt. Später erfuhr er, dass in Wahrheit nichts dergleichen geplant sei.

"Aufgrund schlechter Erfahrungen haben wir unsere Kooperationen mit Großkonzernen stark zurückgefahren", resümiert Resch, dessen Organisation immer noch eine knappe Million Euro im Jahr aus der Wirtschaft einsammelt. Doch bei den Partnern handle es sich inzwischen zu 90 Prozent um Mittelständler. Hier profitiere man zugleich von der Fachkompetenz der Partner: "Ehrliche Nachhaltigkeitsbemühungen finden Sie praktisch nur bei familiengeführten Unternehmen, die generationsübergreifend denken."
Die WamS schneidet auch das verwandte Thema der Professionalisierung von NGOs an, die natürlich auf einer erweiterten Ressourcenbasis beruht:
Nach dem Geschmack mancher altgedienter Kämpfer bewegen sich die Umwelt-Lobbyisten inzwischen etwas zu geschmeidig in parlamentarischen Ausschüssen und in Vorstandsetagen. "Die NGOs haben sich immer weiter entwickelt und sind immer professioneller geworden. Dabei haben sie vielleicht zu oft vergessen, sich umzudrehen", sagt Politikwissenschaftler Schrader.

Nun sei den Organisationen die Basis abhandengekommen. "Es wächst kaum kritisches Potenzial nach. Wie im Zeichentrick ist manche Organisation schon über die Klippe gelaufen. Der Absturz folgt mit zeitlicher Verzögerung."
Fazit: Wenn diese schlechte Stimmung in den NGOs Schule macht, müssen sich die Großunternehmen fragen, was sie in ihren CSR-Strategien falsch gemacht haben. Es kann überhaupt nicht in ihrem Interesse liegen, die NGOs in einer Krisensituation mit herunterzuziehen. Wie kitten Konzerne wie BP diese Erschütterung des Vertrauens?

Donnerstag, 24. Juni 2010

Jeder zweite Dax-Konzern befürwortet ein deutsches Lobbyregister

"Jeder zweite Dax-Konzern befürwortet ein deutsches Lobbyregister", stellt die Welt heute im Beitrag "Ende des Versteckspiels" fest. Das ergab eine Umfrage der Zeitung unter den 30 Dax-Konzernen. 15 der befragten Firmen erklärten sich laut Welt bereit, Details ihrer Lobbyarbeit, etwa Budgets oder Themen, offenzulegen. Umstrittener sei in der Wirtschaft jedoch, wie streng die Vorgaben aussehen sollen.

Im US-Lobbyregister hat das Schwesterblatt Welt am Sonntag jüngst recherchiert, dass die großen deutschen Unternehmen während der Wirtschaftskrise ihre Ausgaben für Lobbyarbeit in den USA verdoppelt haben. Allein Bayer gab zwischen 2006 und 2009 mehr als 23 Millionen Dollar aus. "Und der Chemiekonzern hätte keine Probleme, solche Geldflüsse auch für Deutschland öffentlich zu machen", heißt es.

Unter den 15 positiven Ansagen findet sich Konzerne wie Siemens, RWE und die Deutsche Telekom. Sie würden ein Lobbyregister in Berlin für alle Vertreter von Unternehmen, NGOs und anderen Organisationen befürworten. Alfred Hoffmann vom Chiphersteller Infineon wird zitiert, mehr Offenheit könne die "verdeckte Einflussnahme" einschränken. "Daimler ist hier klar für Transparenz", hat das Blatt erfahren. ThyssenKrupp hoffe, dass durch ein Register Missbrauch vermieden werden kann: Bei den Richtlinien, wer was angeben soll, müsse aber "unverhältnismäßig bürokratischer Aufwand" vermieden werden. Auch die Deutsche Post wolle erst einmal diskutieren, wie ein Register aussehen soll.

Mit der Gretchenfrage "Freiwilligkeit oder Pflicht" wird aber schon klar, dass die Zustimmung zum Register an vielerlei Bedingungen geknüpft ist. Das US-Register ist verpflichtend, das EU-Register nicht, was in Brüssel viele für einen Kardinalfehler halten. Denn auch wenn viele Unternehmensrepräsentanzen und Verbände sich eingetragen haben, fehlen viele Detailangaben -- und zahlreiche Agenturen und Anwaltsbüros sowie zivilgesellschaftliche Organisationen, die sehr wohl mit ihren Büros in Brüssel lobbyieren, glänzen ebenfalls durch Abwesenheit.

Und in Deutschland? "Allein K+S, RWE, Bayer und Metro sprechen sich für ein umfassendes Register wie in den USA aus", so die Zeitung. "Andere Konzerne wie Henkel, die Deutsche Post oder SAP fordern dagegen zunächst eine Diskussion darüber, was Lobbyisten preisgeben sollen."

Seit der Bundestag vor der letzten Wahl eine Anhörung zur Registerfrage veranstaltete, war es still geworden um das Problem. Wie die Zeitung vom SPD-MdB Michael Hartmann erfuhr, will die SPD das Thema zusammen mit der Frage nach externen Mitarbeitern in Ministerien noch vor der Sommerpause in die Ausschüsse einbringen. "Ein verpflichtendes Lobbyregister ist kein Allheilmittel - aber der Druck muss aufrecht erhalten werden." "Wir blockieren da nichts", sagt CDU-Kollege Helmut Brandt, will aber ein freiwilliges Lobbyregister.

Der Staatsrechtler Ulrich Battis von der Humboldt-Universität meint, gegen eine vollständige Liste spreche nach das Berufsgeheimnis und führt - ein altes Thema - die Bauchschmerzen der Rechtsanwälte an. Wenn zum Beispiel ein Anwalt als Interessenvertreter auftrete, müsse er wegen der Verschwiegenheitsklausel seine Auftraggeber oder Honorare nicht veröffentlichen.

Wenn sich die Anwaltskanzleien, die durchaus gut im Lobbygeschäft mithalten, wieder einmal querstellen und auch andere Organisationen -- etwa öffentlich-rechtliche, die auch nicht in der Verbändeliste des Bundestags stehen, oder NGOs -- nicht mitmachen wollen, wird wie schon in Brüssel die Bereitschaft der Wirtschaft und der Beratergesellschaften wohl sinken, ihrerseits zur Transparenz zu stehen. Gleiche Regeln für alle, das ist gerade beim Lobbyregister der Knackpunkt.

Online-Verhalten von Parlamentsmitarbeitern

Auf eine globale Umfrage zum Online-Verhalten von Parlamentsmitarbeitern weist Bernd Buschhausen von Edelman in seinem Kommentar zum Post E-Plus und "Digital Public Affairs": Der Lobbyist als Agronom hin.

Die Studie der Edelman-Public Affairs Gruppe, "Edelman Capital Staffers Index 2009", ist in der Tat interessant. Knapp 400 parlamentarische Entscheidungsvorbereiter in den Parlamenten in Berlin, Brüssel, London, Paris und Washington, D.C. wurden befragt. Die Agentur hat die Präsentation veröffentlicht (zugehörige Pressemitteilung):


  • 98% der politischen Mitarbeiter im Deutschen Bundestag (befragt wurden 50) greifen regelmäßig auf digitale Kanäle und soziale Netzwerke für ihre Recherche und die Politikgestaltung zurück.
  • Fast die Hälfte (42%) gab an, sich zuerst online über bestimmte politische Problemstellungen zu informieren und jeder Vierte (23%) veränderte tatsächlich seine politische Position auf Grundlage von im Internet gefundenen Informationen und Meinungen.
  • Im internationalen Vergleich ist die Integration von digitalen und traditionellen Kommunikationswegen unter den deutschen Bundestagsmitarbeiten doppelt soweit fortgeschritten wie in den anderen untersuchten Parlamenten.

Die Agentur macht eine "digitale Lücke" zwischen Social Media (etwa den MdB-eigenen Blogs oder den Netzwerken der Mitarbeiter) und den traditionellen Direktkontaktmöglichkeiten aus. Der klassische Brief, Emails und Telefonanrufe im Abgeordnetenbüro sowie das persönliche Gespräche sind durch Web 2.0 noch lange nicht in ihrer Effektivität zu toppen, das ist eindeutig.

Ebenso bemessen die Parlamentsmitarbeiter für die Kommunikation mit den Bürgern (im Wahlkreis wie darüber hinaus) den herkömmlichen Massenmedien noch erheblich höhere Bedeutung zu. Gespräche, Veranstaltungen, Reden, Pressebeiträge, Radio und Fernsehen, Pressemitteilungen, Anzeigen schlagen Online-Videos, Blogs & Co immer noch.

"Trotz der Lücke spielt digitale Kommunikation eine vielseitige und effektive Rolle in Public Affairs", kommentieren die Edelmänner. Eine Wirkung der Social Media ist für beide Kommunikationsvarianten auf jeden Fall signifikant messbar.

Im persönlichen Informations- und Kommunikationsverhalten der Parlamentsmitarbeiter wird sehr deutlich, wie stark Online-Medien schon sind, wenn es um Recherchen, Monitoring und informelle Schnell-Infos geht. Auch wenn die meisten sich ihre Informationen bei den Websites traditioneller journalistischen Medien - vor allem Tageszeitungen - und darauf basierenden Diensten wie GoogleNews holen, so ist doch prinzipiell festzustellen: Erstinfos kommen sehr oft online auf den politischen Radarschirm, und immerhin sagt eine signifikante Minderheit - einer von fünf -, dass inhaltliche Positionen schon aufgrund von Online-Quellen verändert wurden. Fazit der Agentur: "Online-Quellen spielen eine zentrale Rolle für Analyse und Gestaltung von Politik."

Die Deutschen sind im Vergleich mit Amerikanern, Briten, Franzosen und den Brüsseler Kollegen nicht unbedingt quer durch die Bank führend in der Online-Nutzung, aber die Nutzung spielt eine offenbar große Rolle.

Nicht zuletzt eröffnet die private Nutzung von Facebook, YouTube, Twitter, LinkedIn & Co einen Kanal zur beruflichen Einbindung, heißt es. Es klafft auch hier eine deutliche Lücke zwischen der privaten Nutzung und der Nutzung im Büro für die politischen Aufgaben der Parlamentsmitarbeiter.

Buschhausen meint: "Public Affairs-Management wird sich zunehmend nach den neuen Möglichkeiten richten, die die sozialen Medien für einen effektiven Dialog mit dem Parlament bieten."

"In Bezug auf die Politikgestaltung und Public Affairs beobachten wir eine digitale Kehrtwende, da Mitarbeiter und gewählte Amtsträger sich vom persönlichen Gespräch hin zu Facebook und anderen sozialen Medien bewegen, um kritische Sachverhalte zu recherchieren und zu kommunizieren", so Jere Sullivan, Head of Global Public Affairs Practice bei Edelman.

Stellt sich die Frage, wie füllt man die Lücke aus Sicht des Public Affairs Managements? "Fischen, wo die Fische sind", meinen die Edelman-Experten. Sie schlagen vor:
  • genau auf den Zuschnitt von Themen- und Stakeholder-Netzwerken zu achten, also zu verfolgen, wer mit wem über welche Social Media kommuniziert (Peer Group Mapping & Monitoring), etwa über Twitter-Anwendungen wie Tweetdecks und Twhirl;
  • Netzwerk-Management über Facebook-Gruppen, Event-Einladungen, Plattformen für offenen Diskurs mit Entscheidern und Vorentscheidern;
  • Einbindung und Outreach über geschlossene Blogs mit Kommentierung, gezielte Einladung von Politikern und Vorentscheidern, auch mit dem Ziel der Schließung von Informations- und Wissenslücken über diese Kanäle;
  • Themenverbreitung und Agenda-Setting über die Bereitstellung von Inhalten und Koordination von Kommunikationsmaßnahmen über ein "Digital Public Affairs Cockpit".

Mittwoch, 23. Juni 2010

Lobbyregister in Großbritannien: Warnung vor den "alten Freunden"

Die neue britische Regierung reagiert mit einer Transparenzinitiative auf die jüngsten Skandale im Parlament um Spesenabrechnungen und Interessenkonflikte: Sie hat sich darauf festgelegt, ein gesetzliches Lobbyistenregister nach EU-Vorbild anzulegen sowie Parteispenden zu begrenzen und die Parteienfinanzierung transparenter zu machen.

Im Wahlkampf war der Ruf nach Reformen ziemlich laut geworden, nicht zuletzt deshalb, weil Dutzende von Abgeordneten lieber auf eine erneute Kandidatur verzichteten, als die Quittung für Fehlverhalten an der Wahlurne abzuholen. Die großen Parteien gelobten im Wahlkampf Besserung.

Nun werden die Konsequenzen greifbar. Als erste Maßnahme wurde ein Verhaltenskodex für Kabinettsminister veröffentlicht. Minister dürfen nach Ende ihrer Amtszeit zwei Jahre lang kein Lobbying der Regierung betreiben; die Zahl der Sonderberater wird eingeschränkt; Termine der Minister, Teilnahme an Veranstaltungen und Reisen sowie Geschenke werden regelmäßig veröffentlicht. Einmal im Quartal sollen Minister-Treffen mit externen Organisationen publiziert werden. Vorschriften für den Zugang zu Dokumenten und staatlichen Ressourcen sowie für den Umgang mit Interessenkonflikten sind ebenso enthalten.

Das Koalitionsabkommen und Regierungsprogramm der liberal-konservativen Regierung Cameron/Clegg hat bereits am 20. Mai klar und explizit das Ziel einer weitergehenden Regulierung der Interessenvertretung formuliert. Was noch fehlt, sind Details und ein Zeitplan. Auch als die Queen Ende Mai ihre Thronrede hielt, die sie quasi als Regierungserklärung des Premierministers verliest, waren noch keine konkreten Gesetzesvorschläge enthalten.

Die Tories haben sich jedenfalls bisher stets zurückgehalten, ihnen waren Selbstregulierung und freiwillige Verhaltensregeln lieber. Im Wahlprogramm hatten sie nur angedeutet, dass die Politik die Interessenvertretung neu regeln werde, wenn die Lobbies selbst dabei versagten.

Treibende Kraft bei den Reformen ist der kleinere Koalitionspartner. Die Liberaldemokraten hatten als einzige Partei ein gesetzliches Lobbyregister in ihr Wahlprogramm aufgenommen.

Dass die Konservativen dabei nun mitgehen, wird in der britischen Politik als wichtiger Kurswechsel interpretiert. Allerdings äußern gerade NGOs erhebliche Skepsis, ob das Versprechen gehalten wird -- oder ob, wenn sich die Erregung der Öffentlichkeit gelegt hat, am Ende business as usual betrieben wird. Die Aktivisten der Organisation "38 Degrees" wollen die Kampagne für Lobby- und Parlamentsreformen fortführen. Auch Medien wie der Guardian warnen davor, dass die Konservativen ihren "alten Freunden" später wieder nachgeben; die Partei hat besonders enge Beziehungen zu Lobbyorganisationen und Beraterfirmen.

Dagegen will die Public Relations Consultants Association (PRCA), einer von mehreren Berufsverbänden für Interessenvertreter, jedoch kämpfen. Generaldirektor Francis Ingham kommentierte: "In dieser Zeit der Finanzkrise kann man kaum glauben, dass dies die Priorität für eine neue Regierung sein soll. Das ist eine willkürliche Reaktion und ein Fehler, der nur zeigt, dass es am Verständnis für die Realität der Public Affairs fehlt." Die PRCA wolle für die ursprünglichen Tory-Vorschläge einer freiwilligen Selbstregulierung eintreten.

Was haben Lobbyisten und fromme Mönche gemeinsam? Das Kloster.

Was haben Lobbyisten und fromme Mönche gemeinsam? Das Kloster. In Italien hat sich vor zwei Jahren der Berufsverband "Il Chiostro" (Das Kloster) gebildet, um Interessenvertreter und Politikberater zu organisieren. Zurzeit sind rund 120 Mitglieder aus Unternehmen, Verbänden und anderen Organisationen sowie andere Politikexperten dabei.

Hehre Wahlsprüche prangen auf dem Banner der Verbands-Website, die u.a. mit Lobbyingitalia.it konkurriert:

Le lobby trasparenti e corrette – Die Lobby, transparent und fair. Aiutano la democrazia a decidere meglio – der Demokratie helfen, besser zu entscheiden. Die Klosterbrüder wollen "die Kultur, Praxis, Regulierung, Qualifizierung und Transparent des Lobbyings in Italien fördern".

Aber wieso ausgerechnet "Das Kloster"?

Wir haben unseren Verband "Das Kloster" genannt, weil wir an die Wortherkunft des Begriffs Lobby aus dem Lateinischen erinnern wollen: "Lobby" kommt von "Lobium" oder Kloster [oder Klostergang, M.A.], ein Ort, der etwas Nobleres suggeriert als die Eingangshalle oder der Korridor eines Hotels. Außerdem möchten wir betonen, wie wichtig es ist, sich dafür einzusetzen, dass Lobbying, wie andere wichtige und komplexe Berufe auch, mit Würde und Respekt begegnet wird.

In Italien wird das Wort Lobby fast immer in verächtlicher Weise genutzt. Manchmal ist es ein Synonym für obskure, rätselhafte und durchdringende Mächte, die den demokratischen Entscheidungsprozess manipulieren. Manchmal wird es als Synonym für Korruption benutzt. Wenn niemand weiß, warum die öffentlichen Einrichtungen nicht handeln oder falsche Entscheidungen getroffen werden, dann ist die simple Erklärung: "Daran sind die Lobbies schuld." Dieses Mantra soll alles erklären; tatsächlich erleichtert es nur, sich darum herumzumogeln, Problemen auf den Grund zu gehen.
“Il Chiostro” will solche Vereinfachungen und Schuldzuweisungen nun verhindern. Der Verband bekennt sich zu Pluralismus und Dialog, will Lobbying als berufliche Tätigkeit konkreter definieren und abgrenzen, Öffentlichkeitsarbeit betreiben, angemessene und "vorurteilsfreie" Regulierung des Berufs erreichen sowie zur interdisziplinären Aus- und Weiterbildung auf Basis eines Verhaltenskodex beitragen. Und:
Wir wollen nicht, dass Lobbies die Politik ersetzt oder dass Lobbies der Politik den Spielraum nimmt. Wir wollen höhere Standards und die Politik dadurch stärken, dass die Vertreter von Interessen ihre Ideen in den Entscheidungsprozess einbringen.

(...) Wir sind überzeugt, dass eine moderne und verankerte Demokratie mehr professionelle Lobbyisten benötigt, die gut vorbereitet und transparent sind.
Noble Ziele, fürwahr.

Dienstag, 22. Juni 2010

TÜV im BDI - Neues von einer Traditionslobby

Der Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) hat im Juni einen neuen, 35. Mitgliedsverband aufgenomme: Den Verband der TÜV. Keine große Meldung, scheint es. Doch zum einen belegt sie den Wandel des BDI, der sich nach langer Strategiediskussion in den Neunzigern auch als Interessenvertretung von Dienstleistern verstehen will -- solange sie industrienah sind. Zum anderen hat der VdTÜV, der neben den TÜVs selbst auch Industriemitglieder hat (z.B. BASF mit eigener Prüfer-Organisation), eine aufreibende eigene Strategiedebatte in den eigenen Reihen hinter sich und positioniert sich Schritt für Schritt neu.

Der Verband wird nun als BDI-Mitglied stärker als Industrie-Branchenvertretung gesehen werden. Das mag gegenüber der deutschen Politik von Nutzen sein, vielleicht auch nicht – normalerweise haben es die TÜV vermieden, ihren neutralen, quasi-halbstaatlichen Experten-Nimbus durch zu große Nähe zum klassischen Wirtschafts-Lobbying in Frage zu stellen. Im Verständnis deutscher Politiker ist der TÜV keine Wirtschaftsbranche, sondern eine vorstaatliche Institution. Das war bisher ein großer Vorteil.

Geschäftlich mag der Türöffner BDI helfen, gerade in den Auslandsmärkten mit den regionalen Ausschüssen. Und: Die europäische Dimension ist für den VdTÜV wichtig geworden. Der Verband wolle "im europäischen Expresszug mit Innovationskraft und entschlossenem Gestaltungswillen als kompetenter, kooperativer Aktivposten mitreisen", bekräftigte VdTÜV-Politikchef Rainer Gronau etwa im Jahresbericht 2010. "Dabei spielt die enge Kooperation und Abstimmung zwischen nationalen Verbänden und europäischen Dachverbänden eine gewichtige Rolle." Vermutlich auch ein Grund, mit Blick auf die starken EU-Ressourcen des BDI. In Brüssel sitzt der VdTÜV nicht weit davon, und fast Tür an Tür mit der deutschen Ständigen Vertretung in der Rue Jacques de Lalaing.

Da bewegt sich also etwas. Intern hat der VdTÜV sich in den letzten Jahren um verbesserten Informationsfluss (z.B. über ein Online-Gremienportal und Vernetzung) gekümmert, auch an der Verbandskommunikation gewerkelt. Alles in allem keine aufgeregten Schritte und Innovationen, aber immerhin. Doch sind die Grundprobleme des Verbands gelöst?

Global Players

Die großen TÜV-Gesellschaften, wie TÜV Nord und TÜV Süd und der 2004 dem Verband abtrünnig gewordene TÜV Rheinland, sind gemeinhin auf die Effektivität der VdTÜV-Lobbyarbeit nicht besonders gut zu sprechen ("Die haben vom Lobbying keine Ahnung", sagte mir jüngst ein Manager). Von der Notwendigkeit des Verbands als Sprachrohr der Branche sind sie wohl nicht überzeugt, haben sie doch ihre eigenen einflussreichen Repräsentanzen in Berlin, den Landeshauptstädten, in Brüssel und vielen ausländischen Hauptstädten.

An der Schwäche ihres Verbandes haben sie auch selbst schuld. Es ist typisch für viele Verbände mit sehr großen Mitgliedsunternehmen, dass diese sich oft wenig um eine effektive Verbandsarbeit kümmern, wenn sie auf niemanden wirklich Rücksicht nehmen müssen. Als internationale Konzerne mit Dutzenden Landesgesellschaften, Zehntausenden Mitarbeitern und Milliardenumsätzen liefern sie sich als technische Dienstleistungsunternehmen nicht nur mit deutschen Organisationen wie der DEKRA, sondern mit teilweisen noch größeren, auch in Deutschland aktiven Unternehmen wie Bureau Veritas, SGS oder Intertek sowie untereinander einen heftigen Konkurrenzkampf.

In diesem Markt zählt vor allem eins: Größe.

Wachstumshungrig
haben die großen TÜV-Holdings mehrfach versucht, miteinander weiter zu fusionieren. Die Fusionswelle ist jedoch erst einmal abgeebbt. Die große Lösung zum TÜV Deutschland wurde irgendwann aufgegeben, die Fusion TÜV Nord + TÜV Süd scheiterte 2007 ebenso wie die von TÜV Süd und TÜV Rheinland zum "Super-TÜV". Umso härter bekriegen sich die Einzelunternehmen im In- und vor allem im Ausland um die lukrativen Aufträge. Das ist ein beinharter globaler Wettbewerb.

Die meisten deutschen Politiker haben keine Ahnung davon, dass die TÜV nicht nur die netten Prüfer sind, die im Staatsauftrag und guter Ingenieurstradition Deutschlands Straßen sicher halten. Oder Brücken, Flughäfen, Kraftwerke, Aufzüge, Tankstellen oder Geräte und Produkte.

Sondern dass hier im Zuge der Deregulierung und Liberalisierung der Prüfmärkte stramm durchorganisierte Global Players entstanden sind, die ihren privilegierten Zugang zu Behörden und Politik zu Schutz und Festigung ihrer Marktposition zu nutzen wissen -- nicht nur beim Marketing, auch beim Lobbying steht ihre Power der anderer internationaler Konzerne in überhaupt nichts nach.

Wann immer der Staat der Industrie technische Auflagen macht oder sich neue Geschäftsfelder formieren - derzeit zum Beispiel die von der EU vorgeschriebenen neuen Luftfracht-Sicherheitschecks - nehmen sie, wie andere internationale Prüfdienstleister auch, Witterung auf und nehmen Einfluss darauf, was, wie, wann und wo gesetzlich geprüft werden soll. Das ist ein integrierter, existentieller Teil des Geschäftsmodells, eine Symbiose zwischen Staat und Branche.

Zwischen den Fronten seiner Mitglieder

Nur bei ihrem Verband im Heimatland, da sah es lange sehr traurig aus. Dem VdTÜV kam bei der rasanten Entwicklung der Branche keine glückliche Rolle zu, geriet er doch zwischen die Fronten seiner Mitglieder. Den großen TÜV Rheinland hat der VdTÜV gar 2004 als Mitglied verloren. Die internen Querelen um die richtige Positionierung ließen den Verband ratlos werden -- mehr als der kleinste gemeinsame Nenner war nie drin. Exzellente Profi-Lobbyarbeit für die gesamte Branche oder gar innovative Konzepte der Interessenvertretung und Kommunikationsoffensiven zu entwickeln war schwierig. Ambitionierte Mitarbeiter verließen das rund 20-köpfige VdTÜV-Team enttäuscht und suchten bei anderen Verbänden, Unternehmen oder bei Beratungsgesellschaften neues Glück.

Der VdTÜV schien nur gut dafür zu sein, den Minimalkonsens in Deutschland zu organisieren. Dazu gehören ganz brav, Netzwerk und Erfahrungsaustausch der TÜV-Sachverständigen zu pflegen und auf der politischen Agenda das markttragende Privileg der Übernahme hoheitlicher Prüfung zu verteidigen und die Marke „TÜV“ zu schützen. (Gar nicht so einfach, denn jeder, auch in der Politik, der etwas für Qualität tun will, ruft nach einem XYZ-TÜV.)

Das größte politische Kapital der TÜVs ist immer noch, dass sie dem Image nach als uneigennützige technische Sachverständige nur dem Gemeinwohl dienen und in hoheitlichem, oft von Gesetzen legitimiertem Auftrag korrekte, neutrale Politikberatung liefern – und eben normalerweise nicht als Vertreter von Geschäftsinteressen gesehen werden. Das Mantra beherrschen die TÜV-Lobbyisten perfekt. Und fügen gern hinzu: "Lobbying machen wir gar nicht, wir sind im Auftrag des Staates unterwegs."

Das macht es einfacher, wenn Ministerien oder Parlamente zu Anhörungen laden oder Gutachten vergeben, oder wenn man auf Parteitagen an TÜV-Ständen mit der Politik ins Gespräch kommen will. Der VdTÜV ist seit 2008 auf Bundesparteitagen aktiv, dazu der Jahresbericht 2010 auf S. 24. Wie schön, wenn dort "insbesondere die Bundestagsabgeordneten ihre Kontakte zum Verband intensivieren" und Prominente vorbeischauen. Auch der neue SPD-Chef und Ex-Umweltminister Sigmar Gabriel kam im November 2009 mit einer Traube Journalisten vorbei und lobte: "Es gibt nur wenige Institutionen, denen man so vertrauen kann wie den TÜV."

Die Macht der technischen Experten - eine deutsche Tradition

Erst recht ist der Einfluss spürbar, wenn TÜV als selbstverständliche Mitglieder in einer Vielzahl von Expertenkommissionen arbeiten, die unbemerkt von öffentlichem Geplänkel mit quasi-gesetzgeberischer Wirkung Standards definieren – und damit auch Märkte für die Prüfer gestalten und schaffen. Weil man - siehe oben - nur wenigen Institutionen so vertrauen kann wie den TÜV, wächst mit zunehmend komplizierteren internationalen Vorschriften die Macht der Expertokratie. Nicht die Schuld der TÜV, natürlich, aber eben auch deren Interesse.

Etwas Misstrauen allerdings gab es schon immer, nicht nur beim Kartellamt, das den TÜV-Konzernen genau auf die Finger schaut.

"Ein lupenreines Monopol", nannte der Spiegel schon im Juni 1977 die TÜV, mit "gutbezahlten Managern", die "Klagen über die zunehmende Machtfülle und den Expansionshunger" nicht beeindrucken; außerdem schalt das Blatt die TÜV "publizitätsscheu" wegen ihrer "streng unter Verschluss gehaltenen Bilanzen".

Das waren Zeiten, in denen die TÜV den Inlandsmarkt und ihre qua staatlicher Lizenz verbrieften Marktrechte noch fein säuberlich nach Regionen aufteilten -- aber auch schon begannen, sich als Unternehmen aufzustellen und die Auslandsmärkte zu erobern (mit politischer Hilfe sogar im Ostblock, ein guter Kunde).

Der Spiegel kritisierte die Intransparenz der "Vereinsbrüder" und die mangelnde Kontrolle, da nur Vorstände und die Abgesandten größerer Firmen aus den wichtigsten Branchen etwas zu sagen hatten. Und grub peinlicherweise auch noch die Tatsache aus, dass die TÜV der neuen Wirtschaftsordnung des Nazi-Staates einiges zu verdanken haben (wie andere Verbände des deutschen Korporatismus auch, etwa das Handwerkswesen). "Erst das energische Eingreifen des nationalsozialistischen Staates", so berichtet der TÜV-Biograph und ehemalige VdTÜV-Geschäftsführer Günter Wiesenack, hat 1938 "zum Erfolg geführt", zitierte der Spiegel. Und analysierte weiter die damals aktuelle Unternehmens-Strategie:
Dabei kommen sie stets nach demselben Muster ins Geschäft: Weil der Staat am Ende die Erfüllung der in gesetzlichen Vorschriften definierten Auflagen für verschiedene Objekte vom TÜV abnehmen läßt, wenden sich die Firmen schon zu Beginn der Arbeiten an den Verein -- obgleich auch eine Vielzahl von Spezialfirmen die entsprechenden Messungen leisten könnte. "Es wäre schlicht dumm", sagt ein Hamburger Bau-Installations-Unternehmer, "den TÜV nicht von vornherein einzuschalten, wenn er den Kasten schließlich doch abnehmen muß."

Darüber hinaus profilieren sich die elf Vereine als Testinstitut der Nation:
TÜV-Plaketten prangen verkaufsfördernd auf Staubsaugern und Grillgeräten, auf Verbandskästen, Ralley-Lenkrädern und Schwimmer-Hilfen. Selbst das umstrittene Skateboard wird, kaum eingeführt, mit dem Siegel des TÜV unters Volk gebracht.

Doch am besten gedeiht das Geschäft mit dem Staat. Denn bei jedem einschlägigen Gesetzesvorhaben ist der TÜV mit von der Partie. Sachverständige helfen bei der Formulierung der Entwürfe und verdienen später an ihrer Durchsetzung.

In kaum einem technisch-wirtschaftlichen Beraterkreis, in kaum einer Kommission fehlen die TÜVler, sowohl innerhalb der Landesgrenzen als auch im internationalen Rahmen. Beispiel Umweltschutz: Neun internationale und insgesamt 29 nationale Gremien kommen nicht ohne Abgesandte des Vereins aus.

"Die direkte Beeinflussung der Rechtsprechung zu technischen Fragen", erläutert Josef Wolff, geschäftsführender Direktor des TÜV Bayern, "erfolgt dadurch, daß unsere Erfahrungen in das einfließen, was man den Stand der Technik nennt." Wolff weiter: "Ohne Gesetze zu sein, sind diese Regeln in einem Maße verbindlich, daß sich jedes Gericht nach ihnen richten wird." Deshalb finde das TÜV-Wissen zuverlässig "in einschlägigen Gesetzen seinen Niederschlag".

(...) Die vielfältigen Umweltschutzauflagen arrondierten das Geschäft. Seit Jahren offerieren die Überwacher ihren Behördenpartnern ein lückenloses "Programm Umwelt", das bei der Entwicklung von Bebauungsplänen beginnt, die Planung und die Überprüfung der Planung umfaßt, fast zwangsläufig auch für die Überwachung in der Bauzeit sorgt und schließlich auch noch die Endkontrolle sowie die Nachprüfung der Endkontrolle anbietet.

Kaum einem Beteiligten fällt bei dieser Prozedur auf, daß der TÜV sich lediglich von Stufe zu Stufe selbst bestätigt, daß in Ordnung ist, was vorher TÜV-geplant, TÜV-gefordert und TÜV-überwacht wurde.

(...) Die Neutralität des TÜV gegenüber den Kernkraft-Freunden ist zumindest ebenso strittig. Denn allzu eng sind die TÜV-Organisationen mit dem bundesdeutschen Atom-Estahlishment liiert.

TÜV-Experten mischen in allen wichtigen Gremien zur Förderung und Entwicklung des Atomstroms mit. Und etliche der prominentesten und einflußreichsten Vereinsmitglieder zeichnen sich als eindeutige Atom-Interessenten aus: Es sind Vorstandsmitglieder von Stromkonzernen. (...) Auf die aktive Mitarbeit des TÜV in Sachen Atom können sowohl das Deutsche Atomforum -- die mächtigste Kernkraft-Lobby Deutschlands -- wie der kerntechnische Ausschuß und die Reaktorsicherheits-Kommission der Bundesregierung bauen.
Juni 1977. Der Spiegel-Verriss ist nun 33 Jahre her. Vieles hat sich geändert, die Welt der TÜV ist heute eine andere. Die Monopole werden weniger, Strukturen und Organisation haben sich massiv verändert, das Geschäft ist global, die TÜV sind weniger behördenähnlich und staatsnah als damals. Aber die Spiegel-Spitzen klingen doch irgendwie so, als fänden Beobachter leicht aktuelle Bezugspunkte, wenn sie wollten. Ein Jahrhundert Tradition. Auch beim politischen Einfluss.

Brüssels Sehnsucht nach Alternativen zum Experten-Monopol der Banken

Was könnte ein organisiertes Gegengewicht zur "übermächtigen Banklobby" sein? Europaabgeordnete haben einen Aufruf zur Gründung einer Gegen-Lobby aus der Zivilgesellschaft veröffentlicht. NGOs, Gewerkschaften, Wissenschaftler und andere sollen eine Organisation schaffen, die alternativen Sachverstand zur Regulierung der Finanzmärkte bereitstellen soll. Denn die Politiker haben festgestellt, dass sie bei der Regulierung eigentlich nur auf das Expertenwissen der Banken, Versicherung und Fonds zurückgreifen können.

Im Interview mit der Süddeutschen erläutert der EU-Parlamentarier Sven Giegold (Grüne), Mitgründer von Attac Deutschland, warum das eine gute Idee ist. Er will die Initiative nicht als "Aufruf gegen Lobbyismus" verstanden wissen, sondern als Aufbau von Gegengewichten. Auszug:
Die Politik hat nach wie vor genügend Macht. Die Regeln auf den Finanzmärkten werden von der Politik geschrieben. Aber um gute Regeln setzen zu können, braucht man ein vernüftiges Kräfteverhältnis. Zu Themen wie Umwelt, Entwicklung oder Gesundheit gibt es starkes progressives, gemeinwohlorientiertes Lobbying, nicht aber zu finanzwirtschaftlichen Themen.

sueddeutsche.de: Wo tritt die Übermacht der Bankenlobby besonders zutage?

Erst jüngst wieder bei der Richtlinie AIFM, mit der die Investment- und Hedgefonds reguliert werden sollen. Da gab es eine unglaubliche Lobby-Schlacht. Alle Abgeordneten wurden massiv bedrängt, es gab insgesamt 1600 Änderungsanträge zum Vorschlag der EU-Kommission. Von denen hatte die Finanzindustrie rund 900 selbst verfasst. Ein entgegenstehendes progressives Lobbying gab es zu diesen Themen nicht.

sueddeutsche.de: Wurden Sie selbst auch bedrängt?

Nein, mich stört aber das selbstherrliche Auftreten einiger Banklobbyisten.

sueddeutsche.de: Steckt hinter dem Aufruf der Parlamentarier insgeheim Ärger über die Arroganz der Banken?

Lobbyismus gehört zur Demokratie. Natürlich kann man an den Methoden der Lobbyisten einige Kritik üben, doch uns fehlt vor allem das Gegengewicht. Es ist kein Aufruf gegen Lobbyismus, sondern das Kräfteverhältnis zwischen gemeinwohlorientierten Lobbyisten und geschäftlichen Interessengruppen muss stimmen. Derzeit vertreten Banken und Versicherungen ihre Anliegen ohne Widerspruch.
Tja. Eigentlich gibt es ja schon Gegengewichte -- beispielsweise die (öffentlich hoch subventionierten) Verbraucherorganisationen, die in Brüssel durchaus bevorzugter Konsultationspartner der EU-Institutionen sind. Seit dem Vertrag von Amsterdam ist Verbraucherpolitik ein wichtiges Politikfeld der EU, und eine eigene Generaldirektion ist zum mächtigen Patron geworden. Ein Verbraucherausschuss mit 20 Mitgliedern, einschließlich fünf Vertretern der europäischen Verbraucherorganisationen, berät sie. Die Kommission unterhält eine Organisation europäische Verbraucherinformationszentren und fährt Verbraucherkampagnen auch und gerade mit dem Schwerpunkt Finanzdienstleistungen. Im Parlament schließlich ist der zuständige Ausschuss auch kein Papiertiger.

Allerdings: Die Verbraucherschutzpolitik kümmert sich so gut wie ausschließlich um die Schnittstelle von Finanzdienstleistern und privaten Endkunden. Die dahinter stehenden Mechanismen der Finanzmärkte, für deren Kapriolen der Verbraucher und Bürger die Zeche zahlt, sind dagegen kein Arbeitsfeld.

Allen Pauschalisierungen zum Trotz: Die Finanz-Lobby ist kein Monolith. Wer mit den Unternehmensrepräsentanten der Privatbanken spricht, hört etwa, wie stark die Sparkassen und öffentlichen Banken, manchmal auch die Genossenschaftsbanken, sich mit völlig konträren Vorschlägen und mächtiger politischer Unterstützung in die Gestaltung einbringen. Schließlich ist auch der Einfluss alternativer Banken und Fonds gewachsen. Zudem gibt es große Unterschiede zwischen den regulatorischen Absichten der EU-Mitgliedstaaten.

Zweifellos haben die EU-Parlamentarier (aus fast allen Fraktionen) aber Recht, dass die Asymmetrie der Interessenorganisation es schwer macht, sich alternative Expertenmeinungen einzuholen. Die Banken scheinen eine Art Experten-Monopol zu haben, glaubt man den Politikern.

Der breite öffentliche Aufruf ist schon ungewöhnlich, weniger ungewöhnlich ist allerdings das Vorgehen Brüssels, sich Gegen-Lobbies einzuladen, mitzugründen und schließlich auch maßgeblich zu finanzieren. Das ist in vielen Politikfeldern passiert, von Umweltschutz über Gesundheit bis Frauenförderung und Forschung. Das ist kein reiner Bottom-up-Prozess, Brüssel gibt gerne den aktiven Makler und Geburtshelfer.

"Lobbiyert uns, wir helfen und bezahlen euch auch dafür" -- das ist im Endeffekt die Logik. Zahlreiche NGOs könnten in Brüssel keine Büros oder europaweite Organisationen unterhalten, gäbe es nicht ständige oder projektgebundene Zuschüsse aus Europas Staatskassen. Wenn der Aufruf Früchte trägt, werden Kommission und Parlament sich sicher nicht zweimal bitten lassen, um das Portemonnaie zu öffnen.

An der Stelle darf man sich als Steuerzahler auch fragen, warum den politischen Institutionen und der Beamtenschaft das Expertenwissen fehlt. Ist es nicht eine wichtige staatliche Aufgabe, das fachkundige Personal selbst vorzuhalten, um die Finanzmärkte regulieren zu können? Aber die Antwort kann man sich denken. Wer wirklich etwas von Finanzmärkten und ihrer Regulierung versteht, sucht sich nur selten einen Job in der Verwaltung, obwohl zumindest bei der EU-Kommission keineswegs schlechte Gehälter bezahlt werden. Gute Politikberatung gibt es nicht zum Billigtarif.

E-Plus und "Digital Public Affairs": Der Lobbyist als Agronom

E-Plus will zum Schrittmacher in der Verbindung von Lobbying für das Internet und durch das Internet werden. Die Tochter des niederländischen KPN-Konzerns ist drittgrößter Mobilfunkbetreiber in Deutschland. Vor einigen Wochen erblickte das Blog "UdL Digital" (UdL steht für Unter den Linden) das Licht der Welt, munter wird bei Facebook und anderen Social Media der politische Freundeskreis erweitert, aber auch "live" sind die rührigen E-Plus-Interessenvertreter auf eigenen Veranstaltungen und anderen Konferenzen unterwegs. Sie melden sich online zu Wort zu Themen wie TKG-Novelle oder Jugendmedienschutz-Staatsvertrag. Das Etikett für die neuen Aktivitäten: "Digital Public Affairs".

"Damit ist die ideale Basis geschaffen, um beispielsweise Grass Roots Lobbying zu betreiben", meint Public-Affairs-Blogger Thomas Zimmerling. "Ich bin sicher, die Kollegen werden uns noch mit der ein oder anderen berichtenswerten Aktion überraschen." Bernd Buschhausen von Edelman kommentiert den Ansatz: "Digital PA ersetzt nicht das traditionelle Geschäft von Public Affairs – bietet allerdings eine einzigartige Möglichkeit, Transparenz und Legitmität des eigenen Anliegens jenseits der direkten 1-on-1-Ansprache zu erhöhen."

Zimmerling meint: "Beobachter dürften bereits zu dem Zeitpunkt hellhörig geworden sein, als Sachar Kriwoj als Manager Digital Public Affairs von E-Plus engagiert wurde." Kriwoj, der von sich meint, "fast ein Digital Native" zu sein (Twitter, Blog "Massenpublikum"), unterstützt den früheren Cheflobbyisten des Verbands der Anbieter von Telekommunikations- und Mehrwertdiensten (VATM), Harald Geywitz, der seit 2007 das Hauptstadtbüro von E-Plus leitete, und den neuen Chef Gunnar Bender.

Kriwoj erläutert, was E-Plus unter Digital Public Affairs versteht:
Digital Public Affairs bezeichnet das strategische Management von Entscheidungsprozessen im Verhältnis zwischen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft unter Einsatz digitaler Medien. Die Grundannahme von Digital Public Affairs ist, dass die Gesellschaft ein so großes Interesse an politischen Prozessen und Entwicklungen hat, dass sie bereit ist, für ihre Meinung auch im Internet öffentlich einzustehen, um im eigenen Interesse Druck auf die Politik auszuüben.
Insofern ist Digital Public Affairs ein Mittel, um frühzeitig gesellschaftliche und politische Strömungen zu erkennen und somit auch in der Lage, sozialen Mehrwert zu erzeugen. Daher ist das besondere Merkmal von Digital Public Affairs, dass sie noch stärker als klassische Public Affairs die Gesellschaft in die politische Kommunikation einbezieht. Dies erfolgt über digitale Kanäle, insbesondere Social Media.

Übersetzt auf die E-Plus Gruppe und unser neues Blog UdL Digital heißt das: Wir möchten zeigen, was Mobilfunk bedeutet, wieso es so wichtig ist, dass jeder Verbraucher das für ihn bestmögliche Netz wählen kann und daher gerade in dieser Branche fairer Wettbewerb ein wesentlicher Faktor ist.

Einigen dürfte UdL Digital durch facebook, twitter oder auch aus dem realen Leben bereits ein Begriff sein. Mit unserer monatlich stattfindenden Veranstaltungsreihe möchten wir einen lebendigen Austausch zwischen Politik, Wirtschaft und Webszene ermöglichen. Über facebook kann man sich dafür anmelden und anschließend in einem informellen Rahmen mit Politikern, Bloggern, Journalisten und politisch Interessierten diskutieren.
Bender hat in einem Vortrag beim "K2-Kommunikationsgipfel" am 17. Juni in Düsseldorf die wesentlichen Punkte zusammengefasst:
Gunnar Bender ist seit einem Jahrzehnt Mr. Internet-Lobby. Vielen ist er vor allem als Co-Autor (mit Lutz Reulecke) des "Handbuchs des deutschen Lobbyisten: Wie ein modernes und transparentes Politikmanagement funktioniert" (2003, FAZ-Buch) bekannt, in dem einige Fallstudien seiner Arbeit bei AOL enthalten sind (z.B. die legendäre Stop-the-Clock-Kampagne für Internet-Flatrates). Er twittert und bloggt auch privat und ist in den Netzwerken ständig präsent, u.a. bei Facebook. Erst PA-Mann und später Chef der Unternehmenskommunikation bei AOL/Time Warner, wechselte er 2008 zu Bertelsmann; 2009 gönnte er sich zwei Monate Sabbatical, um die FDP im Bundestagswahlkampf zu beraten. Ein halbes Jahr investierte er in eine eigene Beratungsfirma, Conversation Partners, um dann doch wieder direkt bei einem Konzern einzusteigen. Seit der Jahreswende hat er als Director Corporate Affairs und Mitglied der Geschäftsleitung der E-Plus-Gruppe ein neues politisches Gesicht gegeben.

Bender sagt in seinem Vortrag, Kern des Digital-Public-Affairs-Konzept sei der Dreiklang von Informieren - Involvieren - Mobilisieren. Das heiße, zunächst müssten relevante Nachrichten für den Aufbau einer relevanten Community sorgen; ein nachhaltiger Dialog mit der Community verschaffe Klarheit über gemeinsame Ziele, und bei der Mobilisierung mündeten gemeinsame politische Ziele in gemeinsamen Aktionen. Für den Interessenvertreter bedeute dies ein neues Selbstverständnis:
Der (digitale) Lobbyist muss sich entwickeln, weg vom "Hunter", der Entscheidungsträger unter Ausschluss der Öffentlichkeit jagt, hin zum "Farmer", der (digitale) Freiwillige informiert, involviert und schließlich mobilisiert.
Das klingt gut und zivilgesellschaftlich attraktiv. Der Interessenvertreter als Bauer, der im Märzen die Rösslein anspannt, sät, pflegt und am Ende die wohlverdiente Ernte einfährt. Ein nachhaltiges Geschäft, verwurzelt und erdverwachsen.

Allerdings -- zwischen dem in Deutschland immer noch gern gepflegten romantischen Ideal des geduldigen Traditionslandwirts auf fruchtbarer Scholle und der Realität des heutigen Agro-Business, in dem es vor allem um Effizienz und Rentabilität großer Flächenproduktion und intensiver Massentierhaltung geht, klafft eine Glaubwürdigkeitslücke.

Problem: Wenn ein großer Konzern zum "Farmer" seiner erweiterten politischen Community werden will, nimmt man ihm den kleinbäuerlichen Ansatz wohl kaum ab. Der Konzern-Lobbyist als Agronom, bewirtschaftet er seine politische Community wirklich ohne säckeweise Kunstdünger, genmanipuliertes Saatgut und bodenverdichtende schwere Erntemaschinen?

Gerade die Internet-User sind da sehr misstrauisch. Und im Vorbildland USA kann man sehen, dass sowohl Online- als auch klassische Medien sehr kritisch werden, wenn sie sich instrumentalisiert fühlen. Wo "Grassroots" zu "Astroturf" werden, wo statt des mühsamen Aufwachsens einer Graswurzelbewegung nur Kunstrasen verlegt wird, mag Digital Public Affairs schlicht als Manipulation mit den Mitteln eines mächtigen Telekommunikationskonzerns ausgelegt werden. Noch ist die E-Plus-Community klein, aber je größer sie wird, desto schneller kann der Vorwurf auftauchen.

Kleiner Vorgeschmack: Bei Wikipedia wurde ein quellenloser, nicht signierter Eintrag zu "Digital Public Affairs" platziert -- nehmen wir mal an, es war das E-Plus-Team, das sich die Wortschöpfung ja selbst zuschreibt. Am 20. Juni wurde der Eintrag komplett gelöscht. Begründung:
"Der Begriff wird derzeit nur von einer Agentur verwendet und ist in keiner Weise relevant. Es handelt sich lediglich um eine Marketingschöpfung, die erst eine relevante Breite erreichen müsste. Auch ist derzeit nicht klar, was das originäre an Digital Public Affairs sein sollte, außer die Wahl des Kanals."

"Charmant, welcher Text hinter dem Weblink kommt [gemeint ist das UdL-Digital-Blog, M.A.]: 'Dabei ist es sehr interessant, dass der Bereich Digital Public Affairs noch so neu ist, dass wir – auch nach langer Recherche – auf keine Fundstellen im Internet verweisen können, die dieses Feld definieren.' Löschen."
Bender ist ein kluger Kopf, und so hat er von sich aus auf der Düsseldorfer Konferenz eine Laterne an sein Problem gehängt. Es gehe um "Empowerment", nicht um "Astroturfing". "Anstatt Unterstützer künstlich zu erfinden, gilt es, real existierende Allianzpartner zu identifizieren und zu unterstützen", sagt Bender. Sein Credo: "Support your supporters."

Das "Vortäuschen des Eindrucks einer spontanen Graswurzelbewegung", in dem die freiwillige Unterstützung nur simuliert werde, sei die "falsche Lobbying-Strategie".

Engagement ergebe sich durch resonanzfähige Inhalte, und die Wirkung definiere sich über die Nachfrager. So will er auf intrinsische statt extrinische Motivation setzen. Er wirbt aber auch für das Verständnis, dass Partizipation zwar "Abgabe von Macht", aber nicht identisch sei mit Basisdemokratie.

Fazit: Digital Public Affairs ist auch ein Minenfeld. Den vielen Chancen stehen erhebliche Risiken gegenüber. Kein Wunder, dass in Deutschland viele Lobbyisten, erst recht ihre Vorstände in Unternehmen und Verbänden, Grassroots-Strategien mit Stirnrunzeln verfolgen -- aber nicht selbst anfassen wollen. Zu kompliziert, zu teuer, vor allem zu unberechenbar.

Gelungene Beispiele, aber auch Implosionen und Knallfrösche, gibt es im In- und Ausland zu beobachten (siehe dazu das Buch Kampagne! 3 - Neue Strategien im Grassroots-Lobbying für Unternehmen und Verbände).

Den E-Plus-Strategen sind die Fallstricke wohl klar. Umso interessanter ist, dass das Unternehmen sich für diese Offensive entschieden hat. Noch gilt in Deutschlands Lobby-Szene (anders als in den USA) keineswegs als geklärt, ob Grassroots-Mobilisierung für die Interessen eines Unternehmens funktionieren kann, zumal überwiegend online. Das Trio Bender, Geywitz und Kriwoj will es offenbar jetzt wissen.

Sonntag, 20. Juni 2010

Kissingers Telefonnummer für Hochschulpolitik in Europa

Der Neuzuschnitt von Ressorts lässt Interessenvertreter stets hellhörig werden. Wird ein Politikfeld auf- oder abgewertet, werden Zugänge zu Entscheidern leichter oder schwieriger? In Brüssel fragen sich das derzeit alle, die mit Hochschul- und Wissenschaftspolitik zu tun haben.

In Deutschland zanken sich Bund und Länder wie gehabt (zuletzt beim kläglichen Bildungsgipfel unter dem Motto "Vertagen, verschleppen, vertrösten", so Spiegel Online), während die Europäisierung der Wissenschafts- und Bildungspolitik fortschreitet und die Hochschulen zunehmend mehr Energie darauf verwenden, die Europapolitik zu verfolgen und zu beeinflussen.

Die Europäische Kommission hat jüngst in der Generaldirektion Bildung und Kultur umgebaut und ein neues Direktorat für Hochschulen, Lebenslanges Lernen und internationale Angelegenheiten geschaffen (Organigramm, Stand 1.6.2010). Hier werden Referate gebündelt, die bisher auf andere Abteilungen verstreut waren. Das trägt die Handschrift des neuen Generaldirektors Jan Truszczyński, der bislang als Staatssekretär im polnischen Außenministerium immerhin wichtig genug war, um den EU-Beitritt Polens zu verhandeln. Das ist kein Nobody, sondern ein Politiker mit gestalterischen Ambitionen.

Die European University Association (EUA, dazu gehören zahlreiche deutsche Hochschulen) und andere Hochschulorganisationen freuen sich, während die Kommission darin erst einmal nur eine administrative Strukturentscheidung sehen will, wie University World News berichtet. Sprecher Thomas Pritzkow verweist auf den Kontext der in vielen Mitgliedstaaten dringlichen Modernisierung des tertiären Bildungssektors, die Fortführung des Bologna-Prozesses, der Erasmus-Programme, des Aufbaus des European Institute of Innovation and Technology, der Einbindung der Marie-Curie-Förderprogramme für wissenschaftliche Talente und des zentralen Stellenwerts von Forschung und Ausbildung in der neuen EU-Strategie EU2020 (Nachfolger der Lissabon-Strategie).

Bernd Waechter von der Academic Cooperation Association (deutsches Mitglied: der DAAD) rätselt auch noch, was das genau zu bedeuten hat, aber immerhin: "Wir begrüßen das natürlich, weil man nun, in Kissingers Worten, eine einzelne Telefonnummer hat", sagte er laut UWN. Bei der EUA hofft Generalsekretärin Lesley Wilson auf "mehr Fokus auf den Hochschulbereich", wichtig for allem für die gebündelte Organisation zahlreicher Förderprogramme und der Umsetzung der beim jüngsten Wissenschafts-Ministerrat beschlossenen Internationalisierungs-Maßnahmen.

Samstag, 19. Juni 2010

Zwei Interessenvertreter in Brüssel und ihr Lieblingsthema

Zwei Interessenvertreter in Brüssel und ihr Lieblingsthema: Atomenergie. Für Spiegel Online hat Sebastian Olényi in einem Doppel-Porträt den Greenpeace-Lobbyisten Jan Haverkamp dem Lobbyisten des Forums Atomique Européen (Foratom) Sami Tulonen gegenübergestellt. Zehn Gehminuten voneinander in derselben Straße liegen ihre Büros. Der Finne sagt, er sei auch privat Atomfan, bezeichnet sich selbst als Umweltschützer. Er sagt, dass er nur fliegt, wenn es unbedingt nötig ist, dass er ein energieeffizientes Haus hat und Papier grundsätzlich doppelseitig bedruckt. Für Tabak- oder Rüstungsindustrie würde er nie arbeiten. Der andere Umweltschützer, der von Greenpeace, pflegt gute Kontakte zur französischen und italienischen Autoindustrie - wegen der Kleinwagen. Beide betonen den Wert von Transparenz und Ehrlichkeit sowie von professioneller Kontaktpflege und dem Selbstverständnis als Informations-Dienstleister. Ein unaufgeregtes Porträt mit interessantem Zuschnitt.

Freitag, 18. Juni 2010

Wissenschaft im EU-Lobbyregister -- wissen sie, was sie tun?

"Mancher steht im Lobbyregister der Europäischen Kommission und weiß es nicht", stellt die Deutsche Universitäts-Zeitung duz in ihrer Juni-Ausgabe verdutzt fest. Frank van Bebber hat das 2008 eingerichtete und rund 2600 Einträge umfassende Register der Interessenvertreter nach Wissenschaftlern und Hochschulen durchforstet. Er fand auch welche.

Die duz fand 92 akademische Organisationen im Register – immerhin schon doppelt so viele wie ein halbes Jahr zuvor. Sechs der Einträge kamen laut duz aus Deutschland, darunter die Uni Münster und das Deutsche Studentenwerk (DSW). Unter der Nummer 21477873138-06 wurde sie auf den Eintrag der Universität Münster aufmerksam. Doch:
Wer dort nach Einträgen fragt, löst Ratlosigkeit aus. Erst nach einer Weile stellt sich heraus: Die Uni hat Professoren eines Master-Studiums für Zollfragen eingetragen. Sie beteiligen sich am Dialog über die EU-Handelspolitik. (...)

Der Eintrag war eher eine Privatinitiative“, sagt ein Uni-Sprecher. Doch die Universität steht jetzt mit Rektorin, 37 000 Mitgliedern und ihrem Etat von 331 Millionen Euro im Lobbyregister.

Auch das Deutsche Studentenwerk findet man im Register. Ein DSW-Sprecher klärt auf, es sei um einen Beitrag zu einem EU-Grünbuch gegangen: „Es hieß, das geht nur so.“ Und: „Wir verfolgen von Berlin aus, was in Brüssel los ist.“

Mussten sich Universität und Studentenwerk überhaupt in das „Register der Interessenvertreter“ eintragen? Nein, heißt es bei der Kommission. Es sei eine irrtümliche Annahme, „nur aufgrund der Registrierung an den öffentlichen Verfahren teilnehmen zu können“, erklärt Margot Tuzina, Sprecherin der deutschen Vertretung der EU-Kommission in Berlin.
Das ist aus mehreren Gründen kurios, wie die duz richtig feststellt. Das (freiwillige) Register ist für Interessenvertreter gedacht, die Einfluss nehmen wollen. Die Beteiligung als Sachverständige oder Teilnahme an öffentlichen Konsultation gehört also eigentlich nicht dazu. Und: Mit der Register-Eintragung ist die Anerkennung des Verhaltenskodex der Kommission verbunden.

Von der Kommission hört die duz ein Argument, warum manche Hochschulen sich registrieren: "Es gebe mittlerweile Universitäten, die von sich aus versuchten, Aufträge für Studien zu erhalten oder ihre Analysen auf europäischer Ebene einzubringen. Sie hofften, auf diese Weise einen Imagegewinn für sich zu erreichen."

Weiterhin stellt die duz fest, dass die deutsche Hochschulrektorenkonferenz (HRK) im Register fehlt -- obwohl sie ein eigenes Büro in Brüssel unterhält.

"Die wenigen verzeichneten Organisationen machen oft lückenhafte Angaben", analysiert das Blatt. Das Deutsche Elektronen-Synchroton (DESY) benenne weder Gegenstand noch Kosten der Lobbyarbeit – obwohl Ute Krell vom Hamburger EU-Projektbüro des DESY sich durchaus als Lobbyistin verstehe, die vor forschungspolitischen Entscheidungen gute Kontakte zur Kommission nutze.

Politologin und Lobby-Forscherin Cornelia Woll erläutert, was manche zu einer Eintragung verleiten könne: „Für Interessengruppen, die nicht so bekannt sind, ist es eine Art, in bestimmten Dokumenten zu erscheinen und informiert zu werden." Dies liege am Charakter des Lobbyismus in Brüssel, bei dem es oft für beide Seiten zunächst wichtig sei, Ansprechpartner zu finden. Die EU-Kommission befriedige diese Wünsche, indem sie ihre Beamten dazu anhalte, ins Register zu schauen. Und sie informiere die Registrierten automatisch, wenn ein Aufruf zu einer Konsultation in ihrem Gebiet startet. Dieser Service wiederum führe zum Eindruck, der Eintrag sei für eine Teilnahme Pflicht.

Zu Wort kommt auch der Prozessmesstechnik-Professor Anthimos Georgiadis (Uni Lüneburg), der registriert ist. Warum das?
"Die EU-Förderung ist für meine Forschung wichtig. Ich interessiere mich darum auch für die Definitionsphasen der Programme und investiere Zeit und Geld, um den EU-Mitarbeitern meine Meinung zu sagen. Als ich gemerkt habe, dass es diese Lobbyplattform gibt, wollte ich mitmachen, damit auch die Universitäten gehört werden. Die angewandte Forschung ist auf die Industrie ausgerichtet. Das ist gut so, aber oft ist eine bessere Kommunikation mit uns nötig. (...)

Ich nehme regelmäßig an EU-Veranstaltungen zu meinen Fachgebieten teil. Ich habe gehört, dass es das gibt, und ich wurde nach einer EU-Konferenz angemailt. Bis auf ein paar E-Mails und ein paar Broschüren hatte der Eintrag allerdings noch keine Konsequenzen für mich.

duz: Das Register soll Transparenz schaffen ...

Ja, denn sonst versteht man nicht, warum die Förderung plötzlich von Multimedia Richtung Nanotechnologie geht. Wenn Ihr Thema plötzlich nicht mehr da ist – was machen Sie dann? Wenn Sie nicht vorbereitet sind, haben Sie keine Chance.

duz: Finden Sie die Verhaltensrichtlinien des Registers gut?

Ja. Aber dass industrielle Partner in Sitzungen ihre Ziele offenlegen, habe ich bislang nicht erlebt. Immerhin: Wenn man die Einträge sieht, kann man sich ein Bild darüber machen, wer sich interessiert. Das ist ja auch schon eine Information.
Plausible Erklärung. Aber davon haben die meisten Professoren und Hochschulen offenbar noch nichts gehört -- oder es ihnen nicht wichtig genug. Während andere augenscheinlich nicht so genau wissen, was es mit dem Lobbyregister auf sich hat und wozu man sich damit verpflichtet. Aber das ist ja nicht nur in der Wissenschaft so.

Was die Lücken angeht:

Wer im Haus der deutschen Wirtschaft in der Brüsseler Rue de Commerce, mitten im Europaviertel, zu Besuch ist, findet Tür an Tür von BDI, BDA und diversen Wirtschaftsverbänden die Büros von Max-Planck-Gesellschaft, Fraunhofer und Leibniz-Gemeinschaft. Im Lobbyregister sind sie alle nicht. (Ein einziges Mitglied der Fraunhofer-Institute ist registriert, aber mit Adresse in Freiburg.) Kurios, kurios.

Wetten, MPG, FhG und Leibniz lobbyieren genauso und oft im Tandem mit den Lobbyisten von den (selbstverständlich registrierten) BDI- und BDA-Repräsentanzen, mit denen sie auf demselben Korridor sitzen? Und warum sind sie dann nicht im Register?

Mittwoch, 16. Juni 2010

Lebensmittel: Rot für die Ampel

Ist das schon das Aus für eine EU-weite Nährwert-Ampel? Scheint so. Nach lebhafter Debatte fand sich im Europäischen Parlament zwar eine Mehrheit dafür, dass Lebensmittelverpackungen verpflichtende Informationen zum Nährwertgehalt und Tagesbedarf enthalten sollen. Aber bei der Abstimmung über den Entwurf einer EU-Verordnung fiel der Vorschlag einer Ampel für Salz-, Zucker- und Fettgehalt in verarbeiteten Lebensmitteln durch. 559-mal ja, 54-mal nein und 32-mal enthalten, das war das Ergebnis für Berichterstatterin Renate Sommer (EVP/CDU).

Eigentlich ist das ein gutes Ergebnis: Es kommt zu einer Vereinheitlichung in Europa, die Kennzeichnungspflicht wird stark erweitert, und die Mehrheit ist dermaßen deutlich gegen die Ampel, dass eine jahrelange, heftige und reichlich verzerrte Debatte jetzt erst einmal beendet ist. Auch wenn die Einigung mit dem Rat wohl noch einige Zeit benötigen wird: dass die Minister das Fass noch einmal groß aufmachen, ist nicht zu erwarten.

Das Echo bei Medien und manchen NGOs: ein Gebrüll der Empörung, wie zu erwarten. Verrat! Als hätte es nicht auch eine komplexe Sachdebatte mit viel Expertenverstand gegeben, bei denen die Ampel als Konzept eben ihrer Strahlkraft beraubt war.

"Sie predigen den mündigen Verbraucher, verhindern aber jede Aufklärung"

Susanne Amann vom Spiegel kommentiert unter dem Titel "Grün, gelb, stopp" ziemlich erbost das Geschehen. "Ein Sieg der Lobbyisten, ein Armutszeugnis für die Politik", meint sie.

Eine Milliarde Euro habe die europäische Lebensmittelindustrie (nach eigenen Angaben) für den Kampf gegen die Ampelkennzeichnung von Nahrungsmitteln ausgegeben. "Das Votum ist ein fatales Beispiel dafür, wie Politik sich ihren Gestaltungsspielraum von der Industrie hat abnehmen lassen."
Dass die europäischen Lebensmittelkonzerne, die im Jahr rund 965 Milliarden Euro umsetzen, kein Interesse an einer transparenten, klar verständlichen und eindeutigen Kennzeichnung von Inhaltsstoffen hat, ist nachvollziehbar. Bis zu einem gewissen Punkt ist es sogar legitim - verdient sie doch ihr Geld mit dem Versprechen vom gesunden, bequemen Konsum, der ohne Folgen bleibt. (...)

In unzähligen Sonntagsreden wird der Kampf gegen Übergewicht beschworen, jede Regierung stellt einen neuen "Nationalen Aktionsplan Fehlernährung" auf und gründet ein Bewegungsforum nach dem anderen. Wirklich getan aber hat sich nichts - im Gegenteil.

Es ist peinlich, dass Parteienvertreter wie die CDU-Berichterstatterin Renate Sommer die Argumentationslinie der Industrie fast im Wortlaut übernehmen. Sie scheuen sich nicht, vor drohender "Fehl- und Mangelernährung" zu warnen, die angeblich durch die farbliche Kennzeichnung von Lebensmitteln droht. Sie haben die Dreistigkeit, wissenschaftliche Untersuchungen einfach zu ignorieren, die die Verständlichkeit der Ampel belegen. Sie predigen den mündigen Verbraucher, verhindern aber jede Aufklärung. Dabei ist es unter Experten längst ein offenes Geheimnis, dass Übergewicht ein Bildungsproblem ist, weshalb es einer klaren und verständlichen Kennzeichnung bedarf. (...)

Doch die Politik ist ihrem Gestaltungsauftrag nicht nachgekommen. Sie hat ihre eigene Macht ohne Not abgegeben und der Industrie keine Grenzen gesetzt. Das ist ein Armutszeugnis. Die Industrievertreter werden sich ins Fäustchen lachen.
Konzerne bleiben in der Defensive

Amann hat damit Recht, dass das von der Industrie als Alternative vorgeschlagene GDA-Kennzeichnungssystem "weder besonders einleuchtend noch besonders präzise" ist, auch dass die Berechnungsbasis fragwürdig ist. Richtig liegt sie auch damit, dass der Zeitverzug der Politik der Industrie die Chance gegeben hat, schnell das GDA-System flächendeckend in Europa einzuführen -- und damit Fakten zu schaffen.

Das war clever, ja, im Nachhinein sieht das so aus. Aber es war in der Industrie auch umstritten und schwierig durchzusetzen. Nein, die Industrievertreter lachen sich nicht ins Fäustchen. Sie wurden massiv getrieben und vorgeführt, sie waren und sind in der Defensive, sie fühlen sich heute ganz anders kontrolliert als noch vor wenigen Jahren. Mal im Ernst: Wenn die Zahl eine Milliarde Euro für die Ampel-Abwehrschlacht stimmt (?), das gibt keine Industrie - schon gar nicht mitten in der Wirtschaftskrise - ohne Not für Politik und PR aus.

Hat die Politik wirklich versagt? Sie hat - zusammen mit den NGOS - zunächst einmal das Problem prominent auf die Tagesordnung gesetzt. Sie hat auf ein öffentliches Bedürfnis reagiert. Sie hat so viel Druck erzeugt, dass die Industrie in erstaunlicher Geschwindigkeit freiwillig ein Kennzeichnungssystem entwickelt und umgesetzt hat. Es ist offensichtlich – GDA wäre (als für die Industrie kleineres Übel) nicht gekommen, hätte es die jahrelangen Debatten nicht gegeben.

Das ist immerhin ein Ergebnis und eine reale Veränderung. Zum Besseren im Vergleich zu vorher. Auch das ist "Aufklärung" und nicht nur "Sonntagsreden". Da hat sich viel bewegt.

Hätte die Industrie kein GDA präsentiert und bereits umgesetzt, wäre bei den parlamentarischen Beratungen ein von Beamten und Politiker ausgetüfteltes Kennzeichnungssystem als Kompromiss entstanden -- wäre das wohl besser gewesen als GDA und Ampel zusammen? Auch nicht unbedingt wahrscheinlich.

GDA ist nicht toll. Aber wäre die Ampel wirklich besser?

GDA ist nicht toll. Aber wäre die Ampel besser? Eine satte Mehrheit im EP war davon schlicht nicht überzeugt. Es gab eine solide Minderheit, die die Ampel sogar für ziemlichen Unfug gehalten hat. Dafür muss man sich nicht von Nestlé- und Coke-Lobbyisten beschwatzen lassen. Ein bißchen common sense reicht aus.

Die Ampel ist auf den ersten Blick attrativ und plausibel, keine Frage. Aber bei simplen Lösungen für komplexe Probleme muss man misstrauisch werden. Wer mehr als einmal im Monat für die Familie einkauft und sich die Produkte im Einkaufswagen anschaut, kommt zu dem Schluss: Erstens hätte die Ampel bei vielen Lebensmitteln widersprüchliche und verwirrende Angaben gemacht, die der von GDA in nichts nachstehen. Zweitens ist nicht das einzelne Lebensmittel entscheidend, sondern der Ernährungsmix.

Drittens ist nicht nur Politikern, sondern auch Verbrauchern aufgefallen, dass der Feldzug von Foodwatch, Verbraucherzentralen & Co auch sehr viel mit Eigenmarketing und Inszenierung zu tun hatte.

Beim Ampel-Feldzug ging es nicht nur um die Sache

So viel Aufmerksamkeit in den Medien haben die Ampel-Lobbyisten sonst für kaum ein anderes Thema bekommen. Sie hatten ein Interesse an der aufgeregten Polarisierung und dem Kampf David gegen Goliath. Die Kampagne ernährte die Kampagne.

Die Giftspritzen gegen "die Lobbyisten" (gemeint sind nicht die für, sondern gegen die Ampel) sind unnötig. Man kann beim besten Willen nicht behaupten, das EP habe die Thematik in den Hinterzimmern weggemauschelt. Öffentlicher ging es ja gar nicht mehr. Die "dicken Kinder", die WHO-Warnungen und so weiter waren auf allen Kanälen.

Aber: Die Ampel einführen, nur um die Konzerne vorzuführen? Das wäre revanchistische Symbolpolitik mit begrenztem Nutzen für die Praxis. Wahrscheinlich hätte sich die Ampel in kürzester Zeit als ziemlich nutzlos und reparaturbedürftig erwiesen. Ein paar Jahre später wäre sie vermutlich in eine Art Krypto-GDA umgewandelt worden.

EU-Verbraucherpolitik kann schlimmere Entscheidungen fällen als die am Mittwoch. Das Europäische Parlament folgt in der Verbraucher- und Umweltpolitik sonst gern den strengen Forderungen der NGOs, auch gegen massive Einflussnahme durch Konzerne. In diesem Fall waren die Argumente schlicht nicht gut genug.

Dafür ist ein Parlament ja nun auch da: die Bürger - und die Wirtschaft - vor unausgereifter Politik zu bewahren.

Lobbying in China

China bleibt ein Rätsel für das westliche Verständnis politischer Kommunikation und Interessenvertretung. Mit transparentem Lobbying in einer Demokratie konkurrierender Parteien, freier Medien, starker Zivilgesellschaft und autonomen Unternehmen kann die Praxis dort nicht viel zu tun haben, darüber ist sich jeder Beobachter klar. Handfeste Lösungen benötigen aber alle Unternehmen, die im bald größten Markt der Welt ein Stück vom Kuchen abschneiden wollen. Geschäft ohne Politik gibt es in China noch weniger als bei uns.

Westliche PA-Agenturen und Lobby-Firmen (offiziell natürlich Investment- und Kommunikationsberater) haben Filialen in China eröffnet. Auf Websites wie PublicAffairsAsia.com nimmt China eine zentrale Rolle ein, und im Web kursieren Tipps zur richtigen Lobbypraxis, etwa wie man chinesische Produktstandards zum eigenen Nutzen beeinflussen kann. Aktuell ist die Expo 2010 in Shanghai ein Lobby-Thema: die Weltausstellung ist schließlich auch ein Forum für Politik und Wirtschaft. Die interkulturelle Problematik -- Warnung vor Gesichtsverlust und Respekt zeigen vor dem chinesischen System -- spielt auch stets eine Rolle. Öffentliche Angriffe auf Peking (à la Google) sind offensichtlich kein Weg zu mehr Einfluss. Aber was dann? Langzeit-Beziehungen aufbauen, aufmerksam zuhören, den Nationalismus der Chinesen akzeptieren, die eigenen Interessen in Einklang mit den Regierungszielen bringen, die lokale Perspektive nutzen -- all das sind übliche Expertentipps. Verunsicherung herrscht allerdings immer wieder darüber, inwiefern offene Lobbyarbeit ohne die verbreitete Korruption funktionieren kann (thematisiert z.B. hier in der Washington Post).

Aktuelle Handbücher zur Lobbyarbeit im Reich der Mitte sind allerdings noch Mangelware. Das Standardwerk ist immer noch The Business of Lobbying in China von Scott Kennedy (Harvard University Press, Cambridge 2005).

Politikbeziehungen stehen ganz oben an für jeden, der in China Geschäfte machen will. Das ist in jeder Diktatur so, aber der dramatische Wandel von der Kommando- zur Marktwirtschaft hat auch die Public Affairs der Unternehmen in China stark verändert. Scott Kennedy beschreibt, wie die chinesischen Unternehmen und ihre ausländischen Partner der neuen Aufgabe entgegentreten, die Politik von besseren (oder zumindest anderen) Entscheidungen zu überzeugen.

Die Konflikte sind gigantisch. Zwar werden Prestigeprojekte der Regierung bewundernswert schnell durchgezogen, ohne dass groß über Umweltschutz oder Beteiligungsrechte gesprochen würde. Doch im Geschäftsalltag sieht das anders aus: Alles ist geregelt, nur nicht systematisch und eindeutig. Und nicht wenige Behördenleiter benehmen sich wie moderne Warlords.

Es ist noch nicht lange her, als die chinesischen Beamte praktisch die gesamte Wirtschaft selbst verwaltet haben. Die Reformpolitik dauert nun schon über 20 Jahre, doch noch immer ist die Bürokratie so groß wie der Appetit der Politiker auf direkte Interventionen.

So ist auch für den Asienexperten Kennedy das Lobbying in China zunächst einmal ein Rätsel und ein Puzzle unzähliger Teile. Die bisherige Literatur hilft nur begrenzt weiter, findet er. Der Wandel lässt es unklar erscheinen, ob China nun eher ein korporatistisches oder schon pluralistisches Lobbysystem darstellt. Und zu Recht weist er darauf hin, dass Marktreformen nicht von selbst eine Wirtschaftsbürgerschaft entstehen lassen, die sich selbstbewusst gegen staatliche Eingriffe wehrt und Regulierung beeinflussen kann.

Mehr als Guanxi

Stattdessen verlassen sich viele auf die Guanxi - die persönlichen Beziehungen zwischen Patron und Klienten, gut geschmiert durch Gunstbeweise an der Schnittstelle zwischen Politik und Wirtschaft. Kommerzieller Klientelismus also, vertikale Allianzen, die oftmals die horizontale Kooperation der Unternehmen beim Branchenlobbying überlagern. Unternehmen und Branchen suchen sich bei den Eliten und Behörden einen mächtigen Patron oder mehrere, mit dem sie sich in einer Art Schutz-und-Treue-Verhältnis arrangieren.

Allerdings, betont Kennedy, ist das heute vor allem in Regionen und Gemeinden zu sehen: Auf der nationalen Ebene sind die Akteure und Zugänge und Konkurrenz so vielfältig, dass das alte System nicht mehr funktionieren kann. Öffentliche Entscheidungen, die nur ein Unternehmen betreffen und recht informell verhandelt werden (wie z.B. Genehmigungen oder Fördermittel) unterlägen oft Klientelismus und Korruption, so Kennedy. Am anderen Ende des Kontinuums ständen Entscheidungen, die nicht branchenspezifisch sei oder das ganze Rechtssystem beträfen -- hier sei eine breite politische Entscheidungsfindung nötig, bei der auch die Wirtschaft gehört werde, aber nur begrenzt. Den größten Einfluss könne die Wirtschaft dort auf Politik haben, wo branchenspezifische und industriepolitische Entscheidungen in einem Mix von informellen und formalen Verfahren fielen.

Verbände

Problematisch und dysfunktional interpretiert Kennedy die chinesische Verbändelandschaft, die zum größten Teil staatlich erschaffen wurde und deren Mitgliedsverbände direkt Behörden und Ministerien zugeordnet werden. Auf der nationalen Ebene sind rund 400 Verbände aktiv, regional und lokal mehrere 10.000. In China ist es durchaus üblich, dass Politiker und Beamte auch Funktionärsposten in Wirtschaftsverbänden übernehmen. Sie haben also zwei Hüte auf -- ein Phänomen, das auch in Deutschland lange verbreitete Praxis war. Allerdings ist der Einfluss solcher "eingebauten Lobbyisten" auf die nationale Wirtschaftspolitik in China offensichtlich ein anderer und viel direkter.

Kennedy schreibt: "Immer noch verbreitet ist eine eingeschränkte Autonomie der Wirtschaftsverbände — entstanden durch die staatliche Rolle in ihrer Gründung, ihrer Anbindung an staatliche Stellen und die Präsenz der staatlichen Vertreter im Führungspersonal." Ausländische Unternehmen haben übrigens nicht grundsätzlich das Recht, Mitglied in diesen Verbänden zu werden, und ausländische Verbände müssen schon viel Glück haben, um sich eine offizielle Adresse geben zu können.

Die Industrie sei durchaus in der Lage, über verschiedene Kanäle - auch den im Westen meist belächelten Nationalen Volkskongress - der Regierung zu signalisieren, wenn z.B. eine Steuer die Wirtschaftsleistung bedroht und Arbeitslosigkeit erzeugen würde. Darauf reagiere die Politik durchaus.

Fallstudien

300 Interviews hat Kennedy geführt - mit Unternehmenschefs, Wirtschaftsverbänden, Behörden und Politikern. Kennedy belässt es nicht bei einer allgemeinen Beschreibung, sondern vergleicht konkret das Lobbying in der Stahl-, Elektronik- und Softwareindustrie. Er zeigt, wie differenziert die Regierung inzwischen die Wirtschaft reguliert - hier mit Steuern, dort mit technischen Standards, dort mit den - Stichwort Raubkopien - umstrittenen Patent- und Urheberrechtsschutzvorschriften.

Stahlunternehmen sind noch vorrangig in staatlicher Hand, so Kennedy, während die Unterhaltungselektronik vom privaten Sektor dominiert wird. Beim Stahl sind die Verbände weniger wichtig, weil es ohnehin ein enges Politik-Unternehmens-Geflecht gibt. Die Softwareindustrie, so Kennedy, ist stärker internationalisiert als andere Branchen und geprägt von einer jungen, hochqualifizierten und mobilen Arbeitnehmerschaft, die ihre Interessen auch zu vertreten weiß. Ebenso sind die Verbände unabhängiger. Kennedy bewertet sie allerdings auch als schlechter aufgestellt im Verhältnis zum Staat, als politisch weniger aggressiv und weniger effektiv. Dafür seien aber sogar kleinere Software-Unternehmen bereit, sich politisch gegen die Politik zu stellen und ihre Interessen pointiert zu formulieren.

Der Politikwissenschaftler von der Indiana University kommt zu dem Ergebnis, dass die Lobbyisten dieser Branchen zwar im selben politischen System agieren, jedoch ganz und gar nicht nach denselben Spielregeln und denselben Prioritäten. Denn das politische und wirtschaftliche Umfeld ist sehr unterschiedlich: So sind in manchen Teilen der Wirtschaft noch sehr viele Staatskonzerne tätig, in anderen haben private längst die Nase vorn. Konzentration und Monopolstellung spielen ebenso eine Rolle wie die technologische Führungsstärke.

Prognosen

Kennedy prognostiziert, dass die politisch einflussreichen Verbände und Großunternehmen zunehmend in Konflikte mit neuen staatlichen Akteuren geraten werden. Ein Beispiel dafür, so Kennedy, sind die Umweltbehörden. Darum musste sich die Stahlbranche lange nicht kümmern. Inzwischen steigt jedoch das Bewusstsein für drastische Umweltschäden, Statistiken belegen die Probleme, und die Regulierungsmacht lässt die Muskeln spielen. Während der klassische Wirtschaftsplan (im Sinne der Planwirtschaft) nur noch begrenzte Bedeutung habe, spielt die Musik heute in einer ungeheuren Gesetzesproduktion mit Tausenden von Detailvorschriften quer durch alle Wirtschafts- und Lebensbereiche.

Kennedy kommt zu dem Schluss, dass die Angst vor einem Amoklauf der immer mächtigeren Wirtschaft ein schlechter Ratgeber für die nächsten Reformschritte wäre. Der Einfluss der Wirtschaft werde wachsen, so oder so. Wer nun im Sinne des Marktes komplexe Institutionen aufbauen will, die effizientes Verhalten fördern, müsse auch bei der Politik die Barrieren schleifen: und das bedeute, mehr und nicht weniger Partizipation der Unternehmen zuzulassen sowie alles, was den Aufbau neuer politischer Organisationen stören könnte, deutlich zu vermindern. Und schließlich bedeute es, dass Lobbying selbst als Industrie begriffen werden sollte -- womit die Notwendigkeit einer Regulierung der Branche gegeben sei: über die Lobbypraktiken, über Geldflüsse und Spesen, und über Interessenkonflikte.