Dienstag, 9. August 2011

Studie aus Bern: Die Schweizer Lobby wird vermessen

Die Schweiz ist ein Sonderfall. Oder doch nicht mehr? Die schweizerische Public-Affairs-Szene hat sich in den vergangenen Jahren stark international orientiert, die Praxis der Interessenartikulation und -repräsentation ist gar nicht mehr so typisch schweizerisch. Die dem Ausland ähnliche Professionalisierung begann bei den internationalen Großbanken und Chemie, Pharma und Lebensmittelindustrie, andere Unternehmen und Verbände folgten. Die Beraterszene hat einen Boom hinter sich, ein rühriger Berufsverband ist mit der Schweizerische Public Affairs Gesellschaft (SPAG) aktiv. Den Schweizern muss man also nicht mehr erklären, was PA ist. Aber das Land pflegt seine Besonderheiten im Public Affairs Management, die viel mit politischem System und politischer Kultur zu tun haben.
  • Gesetze werden nicht nur im Parlament gemacht. Direkte Demokratie und Volksgesetzgebung erfordern in hohem Maße Kampagnenfähigkeit und die Berücksichtigung der öffentlichen Meinung – für Abstimmungskampagnen haben z.B. große Verbände feste Teams (etwa bei EconomieSuisse, dem Pendant zum BDI). 
  • Der im Vergleich zu Deutschland extreme Föderalismus erfordert stark regionalisierte Strategien. Die Mehrsprachigkeit kommt hinzu.
  • Die kollegiale Konkordanzregierung in Bern ist nicht leicht mit anderen Regierungen zu vergleichen, schon des Parteienproporzes wegen, aber auch, weil es keinen echten Regierungschef gibt. 
  • Das "Milizparlament" ist - für eine nationale Volksvertretung - eine ungewöhnliche Versammlung mit nebenberuflichen Abgeordneten (die im Hauptberuf häufig Interessenvertreter sind). Mit Miliz ist die Idee gemeint, dass der einfache Bürger die Aufgabe übernimmt, aber sie nicht zur Haupttätigkeit im Sinne eines Berufspolitikers macht.
  • Dann ist da noch die Nichtmitgliedschaft in der EU, die aber in der Rechtsetzung oft gar nicht so auffällt – denn die Schweiz übernimmt vieles von der EU, fügt sich in den Wirtschaftsraum ein, und ist natürlich in Brüssel immer am Ball.
An Lobbyismus-Kritik kann sich die schweizerische Öffentlichkeit genauso erregen wie die deutsche, allerdings aus etwas anderen Motiven. Die pluralistische Wettbewerbsdemokratie will zur Schweiz nicht recht passen, zu stark scheint immer noch die Vorstellung, der Volkswille könne sich auch direkt in der Politik ausdrücken, und die Schweiz sei klein genug für kurze Wege zwischen Volk und Staat ohne Vermittler. Zwar sind die Schweizer so vereinsmeierisch wie die Deutschen und organisieren sich gern in Verbänden und Initiativen, denen zahlreiche Politiker ja auch ihre Mandate (und ihren Hauptberuf) verdanken, und was wären die schweizerischen Parteien ohne sie. Doch für eine professionelle Lobby schien kein rechter Platz im System frei.

Das mag sich ändern. Claude Longchamp vom Forschungsinstitut gfs.Bern schreibt in seiner für Burson-Marsteller erstellten Studie „Lobbying Survey Switzerland 2011“:
„Lobbying hat sich in der Schweiz seit 20 Jahren etabliert. Es greift teilweise auf ältere Verfahren zurück, die es in der Schweiz mit der Kleinheit und Begrenztheit der Ressourcen schon lange gegeben hat. Lobbying ist in erheblichem Masse im Aufschwung und dieser Aufschwung soll in geregelte Bahnen gelenkt werden.“
Mit der Studie scheint es erstmals eine umfassende Vermessung der PA-Szene zu geben. Longchamps Team befragte Politiker und Beamte aus Bund und Kantonen, Vertreter von Unternehmen, Verbänden und Agenturen. Genauer sahen sie sich subventionsabhängige Branchen und Branchen mit hohem Submissionsanteil bei der Akquise an (143 Befragte in der realisierten Stichprobe).

Am intensivsten ist das Lobbying nach Ansicht der Befragten bei den Wirtschaftsverbänden. Interessanterweise folgen auf Rang 2 und 3 gleich Umwelt- und Verbraucherorganisationen. Dahinter kommt das Lobbying via politische Parteien und das der Gewerkschaften/Berufsverbände sowie NGO und weiterer Verbände. Erst danach folgen PA-Agenturen.

Die Studie weist zudem auf das Lobbying der Kantone hin, wobei das "in systematischer und strukturierter Form eher ein neues Phänomen ist. In der Wahrnehmung der Betroffenen hat sich dieses noch wenig etabliert." Eher schwächer wahrgenommen werden die Lobbyingtätigkeiten von Unternehmen, Medien, Verwaltung, Kulturorganisationen und Think Tanks. Ganz unten in der Wahrnehmungsreihe liegen die Kirchen, "was aufgrund der Jahrtausende alten Tradition eines römisch-katholischen Lobbyings und der Existenz von ursprünglich kirchlich geprägten Parteien durchaus bemerkenswert ist", schreibt Longchamp.

Die Studie hat auch danach gefragt, wie der Erfolg der Interessengruppen eingeschätzt wird. Auch hier liegen Wirtschaftsverbände, Umwelt- und Verbraucherschützer vorn. Knapp nimmt die Studie einige Branchen unter die Lupe: Das Lobbying der Pharma-Industrie, der  Landwirtschaft und der Banken wird stärker wahrgenommen, als besonders aufwand- und ertragsoptimiert gelte das Lobbying der chemischen Industrie. Defizite stellten die Befragten vor allem bei der Energiewirtschaft fest.


"Ebenfalls als sehr erfolgreich gilt das Lobbying der Kantone – ganz im Gegensatz zu dessen Wahrnehmung", wundert sich Longchamp. "Dies kann eine Folge davon sein, dass das Kantonslobbying quantitativ leicht unterschätzt wird."

Spannend sei die Erkenntnis, dass es zwischen Lobbyisten und Lobbyierten offensichtlich Unterschiede in der Wahrnehmung hinsichtlich erfolgreichen Lobbyings gibt. Die Interessenvertreter sehen das Lobbying von Arbeitnehmerorganisationen erfolgreicher als die Politiker und Beamten. Das effektivste Aufwand-/Ertragsverhältnis werde den Wirtschaftsverbänden, aber auch den Kantonen und der öffentlichen Verwaltung zugeschrieben. In Bezug auf die wahrgenommenen Aktivitäten schnitten sie am besten ab. Longchamp formuliert als „eigentliche Entdeckung dieser Studie, wonach Regierungen, Verwaltungen, ja auch das Parlament selber Lobbying betreiben.“ Die Diskussion und das öffentliche Bewusstsein dazu seien aber unterentwickelt.

Das Problem mit dem "Milizparlament"

Lobbying ist aus Schweizer Sicht erst dann sinnvoll, wenn der Politiker klar als hauptberuflicher Volksvertreter und Entscheidungsträger erkennbar von Interessengruppen und Bürgern unterschieden werden kann. Dass die Exekutive aus Vollzeitpolitikern bestehen muss, bezweifelt in der Schweiz keiner mehr. Doch am urigen Feierabendparlament hält man unbeirrt fest: Der Abgeordnete als Berufspolitiker ist offenbar zu unschweizerisch.  

„Das Milizparlament gilt nach wie vor als Maßstab“, schreibt Longchamp. Auch wenn es längst Fiktion ist. Die Abgeordneten sind weit überwiegend Berufspolitiker wie ihre europäischen Kollegen auch, nur darf man das offenbar in der Schweiz nicht sagen. Für einen Hauptberuf haben die Abgeordneten jedenfalls so gut wie keine Zeit mehr. Vereinbaren lässt sich die Parlamentstätigkeit praktisch nur mit Aufsichts- und Stiftungsratsmandaten, die die Abkömmlichkeit erlauben, oder die Verbindung mit politischen Tätigkeiten, aus der Synergien entstehen.

So ist der Hauptberuf dann eher ein Spielbein, nicht selten ein Lobby-Job – was regelmäßig für Kontroversen sorgt und nach mehr Professionalität zu schreien scheint. Hier sieht die Studie auch Bedarf für klarere Regeln und Grenzen sowie um mehr Transparenz, um Interessenkonflikte zu vermeiden.

So geht es dann auch um Standardisierung der Spielregeln. Die Studie bemisst der kritischen Öffentlichkeit eine wichtige Rolle zu, bemängelt im Kontext der Selbstregulierung der Interessenvertreter aber, die Entwicklung von Verhaltenskodizes hinke im internationalen Vergleich hinterher.
„Hier sollte der politische Druck erhöht werden“, schreibt Longchamp. „Nicht selten kommt es zu Verstößen, wenn sich Außenseiter ohne Verlustrisiko mit neuen und aggressiven Methoden ins Lobbying-Geschäft bewegen. Hier geht es in erster Linie darum, die Tätigkeit des Lobbyings korruptionsresistent zu machen, da hier eine der wichtigsten Angriffsflächen liegt.

Eine pointierte Aussage, die verdaut werden will. Die (bis auf das Bankgeheimnis) stets vorbildlich saubere Schweiz, die doch im TI-Korruptionsindex weit vor Deutschland liegt, soll ausgerechnet beim höchsten Gesetzgebungsorgan Tür und Tor für Korruption weit offenhalten?

Longchamp erklärt es eben mit dem nicht mehr zeitgemäßen Festhalten an der Fiktion des Milizparlaments. Dabei ist ihm weniger die bescheidene Abgeordnetenentschädigung ein Dorn im Auge, sondern die unklare Trennung zwischen Entscheidungsträger und Interessenvertreter. Gesetzgebung und Regulierung werden - nicht zuletzt durch die internationale Verflechtung der Schweiz - immer komplexer und fordernder. Durch den Informationsbedarf der Politiker steigt die Abhängigkeit von Lobbies -- doch vernünftige Spielregeln fehlen. Abgeordneter ist de facto ein Vollzeitjob, doch für den Bürger ist das Milizsystem offenbar eine heilige Kuh, und die Politiker haben sich in dem System eingerichtet. Zugleich gibt es offenbar erhebliche Widerstände, sich überhaupt mit dem Lobby-Begriff zu befassen und daraus Konsequenzen zu ziehen.

Erst allmählich, so Longchamp, entwickelt sich ein Verständnis des Lobbyings „als eine normale politische Tätigkeit, die gezielt Informationen vermittelt, Beziehungen pflegt sowie gezielt Zustimmung verschafft und damit hilft, formalisierte politische Entscheidungen zu legitimieren“. Die Studie stellt fest, das vorherrschende Bild des Lobbyings sei von „politischer Intervention aufgrund rücksichtsloser Interessendurchsetzung“ geprägt. Das heißt, es geht von „Einwegkommunikation von  Interessengruppen zu Behörden“ aus, statt erst einmal Interessenartikulation und Verhandlungsprozesse zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren zu sehen.

Was ist also neu zu regeln? Unter den Befragten spricht sich eine Mehrheit dafür aus, dass
  • die Abgeordneten ihre Interessenbindungen offenlegen, 
  • Lobbyisten sich beim Parlament akkreditieren lassen und 
  • die Finanzströme politischer Parteien transparenter werden sollen. werden. 
  • Lobbying benötige ein Qualitätslabel, das die Einhaltung ethischer Berufsnormen dokumentieren soll. 
  • Auch für eine Karenzzeit (Cooling-off) für ausscheidende Regierungsmitglieder kann sich eine Mehrheit erwärmen.
Politiker und Beamte seien noch deutlich stärker als die Lobbyisten für eine offizielle Akkreditierung, auch wenn die Ablehnung bei den Interessenvertretern eher gering sei.

Weitaus größere Differenzen gebe es zwischen Lobbyisten einerseits und den Politikern und Beamten andererseits, wenn es um die Offenlegung der Budgets geht, mit denen die Interessenvertreter ihre Arbeit finanzieren. "Die Lobbyierten befürworten das mehrheitlich, die Lobbyisten lehnen  es mehrheitlich ab", so die Studie. Einhellig bestehe aber die Meinung,  dass Transparenzpflichten nicht soweit führen dürfen, dass die  parlamentarische Einflussnahme via öffentliche Hearings erfolgen muss. Das Lobbying dürfe also informell bleiben.

Insgesamt wird deutlich: "Gesetzliche Grenzziehungen" finden bei den Befragten keine Mehrheit, eher setzen sie auf Selbstregulierung. Einschränkungen würden jedoch bei Parlamentariern als Lobbyisten und bei Ungleichgewichten der Einflussnahme erwartet.
 
Bei den Befragten aus Politik, Verwaltung und Lobby wird -- nicht ganz überraschend -- die Lobbyarbeit mehrheitlich, wenn auch nicht einheitlich positiv beurteilt. Zu den positiven Aspekten zählen die Befragten massgeschneiderte und gut kommunizierte Fach-Informationen.  Gutes Lobbying werde durch Transparenz, Anteilnahme und Zuverlässigkeit gekennzeichnet.

Die negativen Aussagen der Befragten, stellt die Studie fest, konzentrierten sich vor allem auf eines: personelle Schwächen. Die Kritiker "beklagen sich zu allererst über die Schwächen von Lobbyisten – insbesondere in fachlicher und handwerklicher Hinsicht. Erst an zweiter Stelle kommen die vorgängigen systemischen Elemente wie etwa ungebührliche Einflussnahme. Diese Rangierung ist ausgesprochen bemerkenswert: Offenbar bestehen im Lobbying in der Schweiz, wenn überhaupt, an erster Stelle individuelle Schwächen der Lobbyisten. Erst an zweiter Stelle werden systemische Kritikelemente genannt."

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