Samstag, 20. März 2010

Ziel für Politiker: Lobbyisten gegeneinander ausspielen

Dass sich Geschasste ihren Frust von der Seele schreiben, gibt es öfter. Aber Selbstanklagen von Politikern, die (noch) in Amt und Würden sind, sind eher selten. Entsprechend sorgt das Buch "Wir Abnicker: Über Macht und Ohnmacht der Volksvertreter" des SPD-Bundestagsabgeordneten Marco Bülow für etwas Aufsehen – und man rätselt, was die Absichten des Autors sind. Die Kollegen aufrütteln? Das Hamburger Abendblatt bespricht Passagen über "die Lobbyisten, die in Berlin mitregieren":

Im Energiebereich, Bülows Fachgebiet, ist ihr Einfluss groß. Bülow schreibt von Hochglanzbroschüren, freundlichen Menschen mit guter Bildung, ehemaligen Fraktionskollegen, die jetzt der Industrie dienen. "Ich habe selbst bei Lobbygesprächen, die ich mit einem ehemaligen Kollegen meiner Fraktion geführt habe, gespürt, wie ich deutlich offener gegenüber seinen Argumenten wurde."

Sein Aha-Erlebnis war ein Gesetz, an dem er mitarbeitete - vielmehr mitarbeiten wollte. Das Beispiel zeigt, wie Abgeordnete zum Spielball der Lobbyisten werden. Eineinhalb Jahre berieten Bülow und seine Kollegen im Umweltausschuss über ein Gesetz über die unterirdische Speicherung von Kohlendioxid aus Kraftwerken. Ein Gesetz sollte her, aber nur mit Auflagen für die Industrie. Bülow registrierte, dass plötzlich ein fachfremder SPD-Kollege mitverhandeln wollte - er hatte vorher in der Partei Imagebroschüren eines großen Energiekonzerns verteilt.

Interne Papiere aus dem Ausschuss landeten sofort bei der Energielobby. Die Lobbyisten schrieben einen eigenen Gesetzesentwurf - und leiteten ihn an die entscheidenden Stellen weiter, das Kanzleramt und die zuständigen Ministerien. Die Regierung legte schließlich einen Entwurf vor, der in weiten Teilen dem der Industrie ähnelte, sagt Bülow. Dann änderten erste Kollegen ihre Meinung. Bülow wurde wieder einmal bedrängt, er müsse an sein Ansehen im eigenen Wahlkreis denken.

Am Ende scheiterte das Gesetz zur Kohlendioxid-Speicherung, ohne Debatte. Aber nicht weil die Politiker ein schlechtes Gewissen bekommen hätten. Der Bauernverband, eine andere mächtige Lobby, hatte sich eingeschaltet und gegen das Gesetz mobil gemacht. Bülow ist immer noch empört: "Da habe ich mich wirklich mal machtlos gefühlt. Ich reiß mir hier ein Bein aus - und dann wird handstreichartig die Arbeit von eineinhalb Jahren kaputt gemacht." Seine Stimme ist laut geworden.

Eine Kollegin sagte damals, man müsse sich mit der Macht der Lobbyisten abfinden, Ziel eines Politikers könne es lediglich sein, Lobbyisten gegeneinander auszuspielen. "Dem will ich mich nicht beugen", sagt Bülow. Als ihm zwei Unternehmen im Wahlkampf mit einer Spende aushelfen wollten, hat er abgelehnt. Im klammen Ortsverein war man nicht begeistert.

Er könne in den Nächten vor einer endgültigen Abstimmung nicht gut schlafen. Es komme vor, dass "ich innerlich zerrissen bin und mich immer wieder umentscheide", schreibt er. Und: "Ich weiß, es ist schädlich, wenn sich ein Politiker eine Blöße gibt und Schwächen eingesteht." Andere flüchten sich in die Arbeit. "Der Arbeitsalltag überrollt einen. Da denkt man im Nachhinein nicht mehr viel über die Entscheidungen von gestern nach." 60 Arbeitsstunden verschlingt eine Sitzungswoche, am Wochenende finden Konferenzen, Parteitage, Termine im Wahlkreis satt.

Pro Woche bekommt jeder Abgeordnete 100 Vorlagen, manche davon 200 Seiten stark. "Immer wenn ich glaube, alles abgearbeitet zu haben, erhalte ich die nächste prall gefüllte Mappe", beklagt Bülow. Er appelliert: "Wir Politiker sollten zugeben, nicht alles zu wissen. Wir sollten uns bemühen, nicht zu allem unsere Meinung zu sagen, und lieber häufiger erklären, warum es unmöglich ist, Experte auf jedem Gebiet zu sein."

Bülow will das System verändern, hinschmeißen will er nicht. Er wirbt für ein Lobbyistenregister, für Urwahlen, für weniger Fraktionszwang, mehr freie Entscheidungen im Parlament. "Ich werde meine Forderungen nicht eins zu eins durchsetzen können. Aber ich hab schon vor, noch ein bisschen hierzubleiben. Ich habe die Hoffnung, etwas zu erreichen", sagt er. Bülow sagt, es gebe viele Kollegen, die so denken wie er.

Wenn man sich in der SPD umhört und nach Marco Bülow fragt, trifft man auf Menschen, die sich nicht namentlich zitieren lassen. Typisch für das System, das Bülow kritisiert. Man hört, dass Bülow eine Art Spinner sei, der alle drei Monate in der Fraktion "einen Rappel kriegt" und dafür belächelt werde. "Der ist hier nie richtig angekommen", heißt es. Die Netzwerke, die Ministerialbürokratie, die Strukturen gehörten einfach zum Politbetrieb dazu. "Wer das nicht nutzt, ist ewig allein." Bülow sei Idealist und zu wenig Politiker. "Er wäre ein guter Greenpeacler geworden", lästert ein Parteifreund.

Im letzten Jahr, bei der ersten Sitzung der neuen SPD-Fraktion, hat sich Bülow gleich mal mit dem neuen Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier angelegt. Er beklagte, dass Steinmeiers Kandidatur für das Amt wieder einmal im Hinterzimmer ausgekungelt worden sei. "Er hat es sich angehört", sagt Bülow. Und er wird seine Schlüsse daraus ziehen. Bülow ist mittlerweile nur noch stellvertretender energiepolitischer Sprecher seiner Fraktion.

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