Lobbykampagnen mobilisieren vom einem Thema betroffene Bürger, um Politiker zu beeinflussen, die Agenda zu formen und Entscheidungsträger unter Druck zu setzen. Hebelpunkt sind oft die Wahlkreise von Abgeordneten. Wenn das bona fide gemacht wird und authentisch ist, nennt man es Grassroots-Lobbying: Graswurzel-Demokratie eben, von unten, vielleicht nicht spontan, sondern organisiert, aber offen kommuniziert. Wenn die Graswurzeln künstlich gezüchtet werden, wenn Profis Partikularinteressen als Bürger-Lobby tarnen und die wahren Interessen verschleiern, nennt man es Astroturfing – nach dem amerikanischen Wort für eine Kunstrasen-Marke.
Astroturfing simuliert Grassroots wie Kunstrasen echtes Gras. Bei Kunstrasen weiß man allerdings (wie Fußballtrainer Löw), dass der Untergrund Chemiefaser ist, und wer ihn verlegt, preist seine praktischen Vorzüge offen an. Astroturf hingegen beruht auf Täuschung und Intransparenz. Astroturfer bauen Potemkinsche Dörfer, die Bürger vorgaukeln, wo nur Kulissen stehen. Tarnorganisationen (Front Groups) werden gegründet, Organisatoren und Finanziers sind unklar; ob tatsächlich eine Bürgerbasis existiert, ist schwer überprüfbar; und wenn tatsächlich Bürger mobilisiert werden, dann durch manipulative, instrumentalisierende Techniken. So lässt sich Astroturf als Gegenbild zu Grassroots skizzieren. Aber es ist auch ein Klischee, das hinterfragt werden will.
Neue Studie zum Astroturfing
In der explorativen Studie „Astroturf: Eine neue Lobbyingstrategie in Deutschland?“ (VS, Wiesbaden 2011) untersucht die Soziologin Anna Irmisch (Universität Jena), ob wie sich die hoch umstrittene Praxis einer „Arkandisziplin des Lobbying“ verbreitet.
Astroturfing setzt voraus, dass authentisches Grassroots Lobbying einen anerkannten Wirkungsgrad in der Politik hat. Das ist für Deutschland nicht unmittelbar gegeben, sind doch die korporatistischen Lobbytraditionen beharrlich. Interessenvertretung wird aber pluralistischer. Das eröffnet neue Kommunikations-, Organisations- und Partizipationsformen. Irmisch meint:
„Wenn sich Astroturf Lobbying in Deutschland etablieren würde, dann geschieht das vielleicht auch durch kollektive Erwartungsstrukturen bei politischen Entscheidungsträgern, dass nur wenn möglichst viele Menschen aus der Bevölkerung eine Sachfrage oder ein Interesse vorbringen, dieses dann relevant für deren Wiederwahl ist. Das würde bedeuten, dass erst wenn ein Erwartungszusammenhang entsteht, sich die Struktur durchsetzen kann.“Irmisch stellt fest, dass dem Einbinden von Bürgern in die politische Interessenvertretung von PA-Experten „enormes Marktpotential“ eingeräumt wird, wenn auch nicht so stark wie in den USA.
Als „gesellschaftlich erweitertes Lobbying“ beschreibt es ein Experte in der Studie. Wie man es auch organisiert und managt: Dialog, Feedback- oder Mitbestimmungsmöglichkeiten in Kampagnen, reale Mobilisierungsarbeit, Herstellen politischer Responsivität zwischen Wählern und Gewählten – das hat wohl Zukunft, auch wenn Unternehmen und Verbände zur Enttäuschung vieler Agenturen hier noch skeptisch sind. Sie fürchteten Effizienz-, Steuerungs- und Kontrollverluste. „So eine Bürgerbewegung ist ja sehr schwer zu planen, ne. Und eine Spontandemonstration, die kann sich auch verselbständigen“, meint ein Experte in der Studie. Derzeit „ereignet sich in diesem Bereich bei einer überschaubaren Anzahl von Anbietern in Deutschland gegenwärtig ein Vortasten in Form von Experimentierarbeit.“ Nur 10 Prozent der Verbände, schätzt ein von Irmisch zitierter PA-Experte, setzen sich mit Grassroots-Konzepten auseinander; hinzu kämen einige Kommunikationsexperten bei Firmen im Kontext von Corporate Social Responsibility (CSR).
Astroturf widerspricht hingegen den professionellen Verhaltenskodizes, wird gesellschaftlich nicht akzeptiert, in Medien skandalisiert und von Watchdog-NGOs scharf kritisiert. Man ist sich einig: Wer Astroturfing betreibt, riskiert seine Legitimität, Unterstützung und Glaubwürdigkeit. Wenn Astroturf überhaupt wahrgenommen wird. „Die meisten Akteure politischer Interessenvertretung scheinen sich weder eingehend mit der Existenz, noch mit der neuen Qualität und Tragweite dieser Lobbyingstrategie zu beschäftigen“, konstatiert Irmisch.
Derzeit keine Strategie erster Wahl, aber...
„Auf dem Vormarsch“ sieht Irmisch Astroturf nicht. Für die befragten Experten sei recht klar, dass Astroturfing „gegenwärtig und auch künftig keine Kommunikationsstrategie erster Wahl“ darstelle. Sie hat damit sicher Recht, und auch damit, dass die Abgrenzung zu genuinen Grassroots-Ansätzen schwierig bleibt, die sich ja erst entwickeln. Zu denken gibt die Einschätzung eines Experten:
„Und natürlich, wenn Grassroots erst mal angekommen sein wird in Pi-mal-Daumen 5 Jahren, 5-6 Jahren (…) ja, dann werden viele Organisationen zu spät gekommen sein und dann werden sich diese Organisationen künstlich Unterstützung kaufen wollen. Und dann wird es ein Überhandnehmen oder ein Übermaß, ein temporäres Übermaß an wirklich fremdmanipulierter Grassrootsunterstützung geben.“Ein komplexes Phänomen
Irmisch weist allerdings darauf hin, dass die einfache Schubladisierung als „artifizielles Gegenstück originären Bürgerengagements“ nebst ethisch-moralischer Verdammung der Komplexität des Phänomens nicht gerecht wird.
Erstens macht Irmisch Mischformen aus: Grassroots-Lobbykampagnen bedienen sich des Astroturfings, Astroturfer kreieren oder bauen auf legitime Grassroots.
„Mit Grassroots Lobbying wird bezweckt, gegenüber politischen Entscheidungsträgern und der Öffentlichkeit ein organisationsspezifisches Partikularinteresse in ein Gemeinwohlinteresse zu transformieren, indem es über mobilisierte Unterstützergruppen Dritter aus deren Wählerschaft zum Ausdruck gebracht wird. Bei Astroturf Lobbying liegt der Fokus auf der Darstellung vermeintlich unabhängiger Dritter, wogegen bei Grassroots Lobbying die Überzeugung und Mobilisierung Dritter für das jeweilige Interesse im Vordergrund stehen. Beide Strategien finden häufig in Kombination Anwendung.“Zweitens will Irmisch Astroturf wissenschaftlich interpretieren als „Framing“ im Sinne kommunikativer Rahmungsprozesse – als Konstruktion eines Deutungsrahmens bei der Inszenierung eines Protestthemas und Protestgruppen zwecks Legitimation: gegenüber politischen Entscheidungsträgern und der Öffentlichkeit soll ein organisationsspezifisches Partikularinteresse als Gemeinwohlinteresse erscheinen, es wird „gerahmt“, so soll man es verstehen. Das ist laut Irmisch die neue Dimension und Qualität politischer Interessenvertretungspraxis: Der Kern von Astroturf- Lobbying sei, ein bestimmtes zu vertretendes Interesse als Bevölkerungsanliegen und Bürgerinteresse zu kleiden.
Medientechnik und Mediennutzung erleichtern Astroturfing: Es wird immer einfacher, Menschen zu vernetzen und schnell Kontakte zu schaffen. Andererseits sieht Irmisch „astroturfeindämmende Umstände“: Das Internet erlaube auch „vielfältigere und intensivere Beobachtungs- und publizistische Skandalisierungschancen jenseits des professionellen Journalismus.“ Vielleicht ist es das, was NGOs so sicher macht, Kaperversuchen durch Astroturfer entgehen zu können und selbst fernab jeder Versuchung zu sein. Irmisch stellt übrigens fest, dass die von ihr befragten NGO-Vertreter eher wenig Sensibilität dafür aufbrächten. Sie spricht sogar von „Betriebsblindheit“. Die NGO-Vertreter meinten, solche Versuche durch Recherche und Beobachtung leicht aufdecken zu können. Irmisch ist sich da nicht so sicher.
Was ist der Unterschied?
Zur Abgrenzung von Grassroots-Lobbying und Astroturfing zitiert Irmisch einen Experten:
„Es gibt eine sozusagen erweiterte, eine ‚neue‘ Dimension des Lobbyings, wo man nicht nur auf die Politiker zugeht, sondern über die Bürger in Richtung Politik geht. (…) Das ist natürlich eine Herausforderung, weil wir eigentlich eine Verbändegesellschaft sind oder waren, d.h. der normale Weg läuft über Verbände, Aggregieren von Interessen. Natürlich, Verbände sind auch formalisierte Organisationen. Die haben Verfahren ausgebildet usw. und eine bestimmte sagen wir mal ‚demokratische‘ Struktur. Wenn das nicht mehr funktioniert, gehen dann Akteure über die Bürger selber und rekrutieren sich so eine Bürgerinitiative oder schaffen sich irgendwie Unterstützung durch die Bürger. Dieser Vorgang selbst ist schon diskussionswürdig, weil damit natürlich ein neues Verfahren der Interessenartikulation benutzt wird. Da muss man natürlich genau hingucken, weil die Gefahren der Instrumentalisierung relativ groß sind. (…) Ob Sie das jetzt Astroturf nennen, oder Graswurzel ist eigentlich, oder XY, ist eigentlich nicht so wichtig. Wichtig ist natürlich nur: Wo werden Bürger instrumentalisiert und wo artikulieren sie sich aufrichtig? Und das ist eine ziemlich schwierige Abwägung.“Ein anderer Experte erläutert, wie die Grenzen zwischen Astroturf und Grassroots Lobbying verschwimmen können:
„Im [Politikfeld G-]bereich gibt es lauter kleine Initiativen, lose Netzwerke, aber einen Haufen Menschen, die da sich engagieren und die sich halt ad-hoc vernetzen - also richtig graswurzelmäßig ohne quasi große Organisationsstrukturen dahinter arbeiten. Denn wir arbeiten dann halt auch mit Graswurzelansätzen, einfach weil wir nichts anderes haben, so, dann halt auch Sachen wie: jetzt rufen wir mal alle irgendwie bei einem bestimmten Politiker an. Solche Aktionen, das ist eigentlich auch Graswurzel Campaigning, aber wir machen das halt offen, wobei halt diejenigen, die da mitmachen, die sagen dann auch manchmal nicht irgendwie, sie kommen jetzt mit einem Aufruf von [Interessengruppe im Politikfeld G], sondern sagen: „Ich bin ein Bürger und habe ein Problem.“ Und wir sagen ja eigentlich auch nur: „Hier, wenn ihr damit nicht zufrieden seid, ruft da an, hier sind ein paar Argumente.“ Das machen natürlich dann auch andere Firmen auch so. Also wir machen das halt mehr oder weniger dann offen. Deswegen ist es vielleicht auch ein bisschen schwer, wie man das dann abgrenzt, weil eigentlich ist das, was wir machen ist halt eigentlich genauso verwerflich sozusagen von der anderen Seite aus gesehen. Aber andererseits würde ich sagen: „Das ist einfach so. So funktioniert das heutzutage.“ Also eigentlich machen wir auch nichts anders, als den Leuten zu erklären: „Hey, das ist Demokratie - mach mit!“ (…) Ich denke, wir vertreten hier schon Allgemeininteressen, so, und keine Partikularinteressen, aber das sehen halt andere dann auch wiederum anders.“Beispiele
In ihrem Buch trägt Irmisch einige Beispiele zusammen.
- Da sind die WasteWatchers: 1992 gegründet, sollte diese (inzwischen inaktive) Hamburger Bürgerinitiative den verantwortungsvollen Umgang mit Abfall bewerben. Ins Leben gerufen wurden WasteWatchers allerdings vom Ex-Pressesprecher des Verpackungsherstellers TetraPak und Kollegen. Ziel: Ausbau und Akzeptanz von Müllverbrennungsanlagen und Diskreditierung von Umwelt-NGOs. Der Spiegel enttarnte das Projekt 1995. Die "Ökosimulanten" hätten selbst Experten getäuscht. "Die deutsche Industrie unterwandert die Umweltbewegung", stellte das Blatt fest.
- Dann ist da die Koalition Pro Patienteninformation: Diese vermeintliche Patientenkoalition trat auf einer Website und in Person des PA-Beraters Jan Burdinski in Berlin auf, der aber auf Abgeordnetenfragen über die Finanzierung und Auftraggeber auswich. Recherchen führten zu Medienberichten (z.B. im Stern), 2007 zu einer DRPR-Rüge und 2008 zum Ausschluss Burdinskis aus dem Berufsverband degepol. „Kann es tatsächlich schlicht Zufall gewesen sein, dass sich die Interessen des Vertreters einer vermeintlichen Patientenkoalition mit denen der Pharmaindustrie deckten, die zu dem Zeitpunkt versuchte gegen das europaweite Werbeverbot verschreibungspflichtiger Medikamente vorzugehen?“, fragt die Autorin.
- Die Deutsche Bahn wird gewürdigt: 2007 löste die „no-badge“-Kommunikation zur Privatisierung und zum Streit mit den Lokführergesellschaften eine Rüge des Deutschen PR-Rats wegen verdeckter PR aus. Die beauftragte Agentur European Public Policy Advisers (EPPA) und der Think Tank BerlinPolis platzierten anonyme oder gefälschte Beiträge in diversen Social Media und Leserbriefspalten.
- Irmisch nennt auch Entega: Der hessische Stromanbieter inszenierte im Januar 2010 in Berlin eine Schneemann-Demonstration gegen den Klimawandel. Bürger sollten (aus Kunstschnee) am Schlossplatz Schneemänner formen und darauf ihre politischen Botschaften verewigen. Eigentlich eine Werbeaktion, wie u.a. die taz offenlegte.
- Da ist der frühere Bundesverband Landschaftsschutz (BLS), der offenbar viele Industrieverbindungen hatte und Bürgerinitiativen gegen Windkraftanlagen stimulierte und durch Argumentationskataloge, Referenten und Studien unterstützte. Dass der BLS-Sprecher Leiter des Bereichs Public Affairs bei einem Aluminiumkonzern war, kam aber auch heraus. Später tauchte der Landesverband Landschaftsschutz Niedersachsen auf, über den der Umweltverband BUND sagt: „Wo ein Landesverband ist, müssen viele andere sein, denkt man sich. So ist es aber nicht. Es gibt nur diesen einen sogenannten Landesverband. Vor Ort mutiert er dann wieder. Da sind es dann die besorgten Bürger des Hunsrück oder die Neustädter gegen Windkraft oder, oder, oder... Diese Organisationsform entspricht genau der kleinteiligen Struktur Deutschlands und der Tendenz zur Vereinsmeierei hierzulande. So kann man erfolgreich spielen, man wäre eine Bewegung“.
- Irmisch nennt den Verein „Bürger für Technik“: Der Vorsitzende des Vereins, Ludwig Lindner, sei Mitglied in zahlreichen Interessenverbänden, die sich für Atomkraft, Gentechnik und PVC einsetzen, wie etwa der Kerntechnischen Gesellschaft, der Arbeitsgemeinschaft PVC und Umwelt, sowie der Gesellschaft Deutscher Chemiker. „Die ‚Bürger für Technik‘ schreiben Leserbriefe, melden sich in Diskussionsveranstaltungen zu Wort und halten Vorträge an Schulen. Stets werben die besorgten Bürger für Atomkraftwerke, Gentechnik und umstrittene Chemikalien wie PVC“, berichtete dradio.
- Die Gesellschaft zur Förderung umweltgerechter Straßen- und Verkehrsplanung (GSV) nennt Irmisch auch: Hinter dem 1980 gegründeten Verein stehen Unternehmen und Verbände der Straßenbau- und Automobilindustrie. Hauptaufgabe ist die Beratung und Koordination von 150 Bürgerinitiativen, an deren Gründung der GSV z.T. beteiligt ist. Bürgermeister, Landräte und Straßenbaumeister werden gezielt eingebunden. Die Beratung leisten die GSV-Länderbeauftragten, oftmals ehemalige Beamte aus Verkehrsministerien und Straßenbauverwaltung. Sie unterstützen mit Informationsmaterial, Argumentationshilfen, Plakaten und Kontakten.
"Bürger für Technik" wurde übrigens von der ZEIT mit seinem gesamten Instrumentarium enttarnt (Christian Fuchs: Atomkraft? Ja, bitte. DIE ZEIT, 18.4.2008: http://www.zeit.de/2008/17/Atomlobby).
AntwortenLöschenDer Autor Christian Fuchs hat auch einige andere Astroturf-Tarnvereine in Deutschland in den vergangenen Jahren aufgedeckt, unter anderem die Initiative "meine Wahl!" (Medizingeräte-Lobby) und "Jugend für Menschenrechte" (Scientology).
Diese aktuelleren Beispiele hätten dem Buch und diesem Post gutgetan.