Montag, 8. August 2011

Studie zu EU-Verbänden: Modernisierungsbedarf und Defizite

Wie stellen sich europäische Wirtschaftsverbände am besten auf? In einer Expertenbefragung hat die Brüsseler Beratungsfirma Ellwood & Atfield einige „Key Success Factors for European Trade Associations“ zusammengetragen (Studie zum Download, Bericht auf EurActiv). Befragt wurden 70 Experten zwischen Mai 2010 und Februar 2011. Unter den Experten waren Vertreter von Verbänden, Unternehmen, PA- und PR-Berater sowie Verbandsmanagement-Berater.

Ellwood & Atfield macht vier Schlüsselfaktoren für europäische Wirtschaftsverbände aus:
  • Effektive Führung durch Geschäftsführung (Director General) und Vorstandsgremium (Board);
  • Proaktive Public-Affairs-Aktivitäten in der EU, gesteuert und getrieben durch eine politisch aufmerksame Geschäftsstelle in Brüssel;
  • Integrierte Kommunikation, verantwortet durch einen Kommunikationsdirektor, der Teil der Führungsmannschaft ist; und
  • durch klare Kriterien nachweisbarer Mehrwert für die Mitglieder.
Kraftakt Willensbildung und die Rolle der Verbandsmanager
Ohne Konsens kommen Verbände in Brüssel nicht weit. Wer sich intern nicht einigen kann, wohin und wie der Verband marschieren soll, kann politisch wenig bewegen. „Die größte Herausforderung für europäische Verbände liegt darin, Konsens zwischen den Unternehmensmitgliedern zu finden, die untereinander um Marktanteile konkurrieren, und den nationalen Verbänden mit ihren unterschiedlichen Kulturen“, sagt Studienautor Ben Atfield. Bei der Herstellung des Konsens kommt daher den Moderations- und Entscheidungsfähigkeiten an der Spitze viel Bedeutung zu.

Aber Verbandsmanager stehen intern oftmals zwischen den Fronten. Die Studie spricht von Machtkämpfen in einigen großen Verbänden. Nationale Verbände als Mitglieder vertreten oftmals die kleineren Akteure, und sie ringen mit Konzernen um die Dominanz des Dachverbands. Aus vielen dieser internen Machtkämpfe gingen nach Expertenmeinung die Großunternehmen als Sieger hervor, die ihre Euro-Verbände seitdem dominieren.

Entscheidungen werden meist nicht von einem einzigen Präsidenten, sondern von Präsidien und Vorstandsgremien (Board) getroffen. Wie diese Gremien ihre Entscheidungsprozesse mit klarer Verantwortlichkeit gestalteten, und wer überhaupt in diesen Gremien mitbestimme, ist laut der Studie von großer Bedeutung – Flexibilität, Transparenz, Vielfalt und offene Meinungsdiskurse ebenso.

Die Studie hält fest, dass es bei vielen Verbänden Modernisierungsbedarf in der Governance-Struktur gebe. Sie deutet Verkrustungstendenzen und Reformblockaden an, was die Mitgliedschaft, etwa auch Unternehmensmanager, frustriere und dazu führe, dass die Mitglieder die Verbandsführung nicht immer unterstützten.



Extern bedeuten Struktur- und Entscheidungsprobleme ebenso Nachteile, denn in EU-Gesetzgebungsprozessen ist Tempo gefragt. Unentschiedenheit und Untätigkeit verringerten den politischen Einfluss, so die Studie.

Am stärksten betroffen seien reine Verbändeverbände, die ausschließlich Verbände als Mitglieder haben. Verbände, die nur Firmen oder eine Mischung aus Unternehmen und Verbänden als Mitglieder haben, sind laut der Studie oftmals effektiver.

Ein besonderes Problem macht die Studie bei Verbandsvorständen mit dominanten Persönlichkeiten aus. Das könne zu Risiken führen – nicht zuletzt durch die EU-Wettbewerbsaufsicht. Als Beispiel nennen die Autoren das Vorgehen der Kommission gegen das Zementkartell vor einigen Jahren. Die Wettbewerbshüter bemängelten etwa, dass der Vorsitzende des Dachverbands die Erstellung eines Sitzungsprotokolls verbot; damit habe der Vorstand bewusst illegal gehandelt. Heute, so die Studie, müssten Tagesordnungen und Protokolle routinemäßig durch Juristen geprüft werden. Nur so sei zu verhindern, dass ein Unternehmen sich nicht wettbewerbsrechtlichen Vorwürfen aussetze. Die Führungsebene von Verbänden müsse dies sehr genau im Auge haben.

Auch deshalb schreitet die Professionalisierung der Verbandsgeschäftsführung voran, meinen die Autoren der Studie. Die Kompetenz des für das Tagesgeschäft verantwortlichen Verbandsmanagers werde heute anders bewertet als früher.

Ein Anhaltspunkt sei, dass der Titel „Secretary General“ immer seltener, der Titel „Director General“ (oder auch „Executive Dirctor“) häufiger werde (so änderte auch der Spitzenverband BusinessEurope die Bezeichnung).

Der Typ des – oft gegen Ende seiner beruflichen Laufbahn aus Unternehmen berufenen – Generalsekretärs, der sich beim Lobbying zurückhalte und auf Verwaltung und Protokollführung bei den Gremiensitzungen beschränke, werde durch den Typ des Generaldirektors verdrängt, der als Stratege, Branchenexperte und EU-Akteur verstanden werde – ein Verbandsprofi und EU-Profi.

Diplomatisch, kommunikativ und kontaktstark soll er sein, strategisch denken und führen soll er können, aber auch gut zuhören können. Er soll kenntnisreich sein und vor proaktivem Lobbying nicht zurückschrecken. Eine Vision soll er haben, intern Konsens generieren und moderieren können, nach außen Branchenlösungen gut „verkaufen“ können. In jedem Fall benötigt der Verbandsmanager an der Spitze ein ausbalanciertes Profil vieler Eigenschaften (siehe dazu das Ellwood & Atfield-Bewertungsschema links).

Die Größe eines Verbandes hat für die Anforderungen an den Chef Bedeutung. In kleineren Verbänden ist der Hauptgeschäftsführer ein Allrounder. Er ist in alle Details der Verbandsverwaltung eingebunden, fällt Budget- und Personalentscheidungen, aber muss auch Branchenexperte, EU-Kenner, aktiver Lobbyist sowie interner und externer Chefkommunikator sein. Große Verbände haben dagegen eine differenzierte Arbeitsteilung unter Spezialisten. 

Einfluss sichern und gewinnen
Auch in Brüssel fängt der frühe Vogel den Wurm. Das Einwirken auf EP und Rat bleibt weiterhin die zweitbeste Lösung hinter der Einflussnahme auf Kommissionsvorschläge.

Hinzu kommt der Trend, dass schon vor der Einleitung des offiziellen Gesetzgebungsprozesses und vor der ersten Lesung mit EP und Rat verhandelt wird. Das verkürzt de facto den Zeitrahmen für die Beratungen.

Hier haben Verbände eine exzellente Chance, sich Gehör zu verschaffen und mitzugestalten – vorausgesetzt, sie sind frühzeitig aufgestellt, stehen bereits im Dialog mit den Akteuren, reagieren schnell und flexibel. Dann laufen ihnen die Unternehmensrepräsentanten im Lobbying auch nicht den Rang ab.

Die mit eigenen Lobbyisten aufgestellten Unternehmen haben, so die Studie, zudem oftmals ein großes Interesse daran, in Koalition mit kleineren Organisationen gemeinsam zu handeln. Warum?
  • Kommission und EP bevorzugten weiterhin Euro-Verbände und 
  • seien zudem sehr stark auf den Mittelstand als Job- und Wachstumsmotor fixiert: Eine wirtschaftsfreundliche Linie finde eher Akzeptanz, wenn gesagt werden könne, dass KMU von einer Entscheidung profitierten. Verbände mit KMU-Mitgliederbasis hätten daher erhebliches politisches Kapital.
Das Thema Allianzen erhält Bedeutung auch aus Gründen der Effektivitäts- und Effizienzsteigerung. Der Trend geht laut Studie zu Bündnissen, bei denen Verbände und Unternehmen gezielt gemeinsame Arbeits- und Lobbyplattformen oder Netzwerke errichten, um doppelte Arbeit zu vermeiden. Beispiele reichten vom geistigen Eigentum und Produktpiraterie über Datenschutz, Energiesicherheit bis zum Klimawandel. Damit werde eine breite Stakeholderansprache erreicht. In bemerkenswerter Klarheit formuliert ein Unternehmensvertreter im Interview:
Unternehmen haben keine Geduld mit Verbänden, die beim selben Thema ihre Arbeit duplizieren. Wir sehen es lieber, wenn Ressourcen gebündelt und Koalitionen zusammengeführt werden, die an einem bestimmten Thema arbeiten, selbst auf Ad-hoc-Basis. Coalition-building sollte der normale Standard der Zusammenarbeit sein, außer bei rein sektoralen Themen.
Die Verbreiterung der Basis hat offenbar auch mit der Globalisierung in den Public Affairs zu tun, nicht zuletzt durch den wachsenden Einfluss globaler Organisationen wie der WHO und WTO in Genf. Auch damit müssen sich die Euro-Verbände auseinandersetzen.

„Brüssel allein ist nicht mehr genug“, sagt ein Unternehmenslobbyist. Regierungen, NGOs und Gewerkschaften orientierten sich global, Wirtschaftsverbände aber nicht. „Nur in Brüssel zu reagieren, lässt ein Thema nicht verschwinden.“

Die Transparenz-Frage schließlich wird von vielen der interviewten Experten ebenfalls angesprochen. Das (bisher freiwillige) Lobbyregister hat die Arbeitsweisen offenbar nicht viel verändert.
  • Allerdings hat es zu verstärkter Konsultation zwischen Verbänden und Mitgliedern geführt, um die Transparenzvorschriften durch aktuelle, verlässliche Daten erfüllen zu können. 
  • Es gebe weiterhin Grauzonen unklarer Rechtslage – angefangen vom  Mittagessen mit EU-Beamten. 
  • Seitdem die Verbände im Lobbyregister ihre Finanzen klarer offenlegen, scheinen sich auch die belgischen Finanzämter etwas stärker für die Verbände-Rechnungslegung zu interessieren.
Die Wirtschaftskrise hat viele Verbände in Brüssel finanziell getroffen. Auch dies kann man aus der Studie herauslesen. Verbandsmitglieder stünden unter hohem Kostendruck, und die Mitgliedsbeiträge sind davon nicht ausgenommen. Unternehmen prüften inzwischen sehr genau, ob und wie sich die Mitgliedschaft noch lohne. Immer größer werde daher der Rechtfertigungsdruck für die Verbände. Sie müssten den Mehrwert nachweisen und versuchten, für dasselbe oder weniger Geld mehr Angebote zu machen. Umso wichtiger sei es, in Wirtschaftlichkeitskategorien und unternehmerisch zu denken, ständig die eigene Aufstellung kritisch zu reflektieren  und neuen Mehrwert zu formulieren.


Immerhin seien die Mitglieder aber dafür sensibilisiert, dass die Krise eine höhere Regulierungsdichte und mehr EU-Interventionen mit sich gebracht habe. Wer jetzt seine politische Interessenvertretung zurückfahre, schade sich selbst. Diese Vorsicht verhindere derzeit den finanziellen Kollaps mancher Euro-Verbände.

Mängel in der Kommunikation und Medienarbeit
Ein Verband soll seinen Mitgliedern einen Informationsvorsprung geben. Daher ist die interne Kommunikation sehr wichtig – sie benötigt gute Strukturen, Nutzerfreundlichkeit und häufige Frequenz (z.B. mindestens wöchentliche Information).

Zu kompliziert darf sie nicht sein. Ein Verbandsmanager berichtet z.B., auch ein gut gemachtes Extranet sei wenig populär: Letztlich sei den Menschen an der Mitgliederbasis der Email-Rundbrief mit Anhängen lieber, als sich mit Passwörtern und Navigation im Extranet herumzuärgern.

Eine Herausforderung für die interne Kommunikation sind die EU-Prozesse selbst: Verbände müssen ihre Mitglieder ständig auf notwendige Eingaben in Konsultationen, Kommentare zu Entwürfen von Positionspapieren und zur Mitarbeit in Lobbykampagnen anhalten. Das sei nur mit sehr guter Organisation der Kommunikationsverfahren zu schaffen.

Doch die Kommunikationsfunktion sei bei vielen Euro-Verbänden unterentwickelt, unterfinanziert und unterbesetzt. Sie erhalte nicht den Rang, der ihr gebühre. Selbst bei solchen Verbänden, die schon erheblichen Reputationsschaden hinnehmen mussten. Die Studie stellt mit Befremden fest, dass der Kommunikationschef eines der wichtigsten Verbände der Finanzdienstleistungsbranche nicht einmal Teil des Kernteams der Verbandsführung sei. Andere hätten sich besser reorganisiert, indem sie die Kommunikationsaufgaben bündelten und in direkter Linie zur Spitze aufstellten.

Von der Verbandsarbeit versprechen sich Mitglieder nicht zuletzt Medienaufmerksamkeit und verbesserte Wahrnehmung einer Branche in der Öffentlichkeit. Die PR ist kein Selbstzweck, sondern soll die politischen Aktivitäten unterstützen und ergänzen. Die befragten Experten zeigen sich in der Studie allerdings sehr kritisch gegenüber den Kommunikationsleistungen der Euro-Verbände.

Die Studie macht darauf aufmerksam, dass die Krise der traditionellen Medien und das Wachstum des Internets zur Halbierung der in Brüssel ansässigen Journalistenstellen geführt haben. Das verschärfe den Wettbewerb um Medienpräsenz. Die Pressearbeit der Verbände sei nicht schlecht, aber für Journalisten seien Verbände oftmals als Quellen für  Zitate, die sie in der Berichterstattung nutzen können, nicht attraktiv. Pressemitteilungen kämen oftmals zu spät, und Verbände reagierten zu langsam auf den schnellen Nachrichtenfluss in den Online-Medien.

Defizite macht die Studie u.a. bei den Social Media aus. Bei der digitalen Kommunikation hinkten die meisten europäischen Verbände deutlich hinter ihren Migliedern und Stakeholdern hinterher, so die Studie.

Eine große Gruppe von Verbänden verharrten bei den Social Media in Beobachtungs- und Wartestellung. Nicht wenige seien von der Grundphilosophie her schlicht negativ dagegen eingestellt. So seien immer noch viele Websites der ersten Generation ohne interaktive Elemente (Web 1.0) zu finden. Wer sich mit so etwas im Jahre 2011 der Öffentlichkeit präsentiere, helfe seiner Reputation und Glaubwürdigkeit nicht. Irina Michalowitz (Telekom Austria Group) kommentiert das Verhalten der Verbände gegenüber Social Media so:
„Die Wirtschaftsverbände haben noch nicht voll erfasst, worum es geht. Sie sehen, wie es benutzt wird, aber sie haben keine Ressourcen, um es selbst zu nutzen. Und es gibt Generationenunterschiede. Unter 25-Jährige nutzen es, 28- bis 35-Jährige verstehen es, über 35-Jährige benutzen es nicht aktiv.“
Einige Verbände machen aber Fortschritte. Als Beispiel wird AmCham EU genannt: Die neue Website bietet mehr Interaktivität, Basispapiere als optisch attraktive Fluidbooks oder eingebette Videos auf der News-Seite, wie dieser informelle monatliche Kurzbericht der Geschäftsführerin Susan Danger vom Besuch einer Delegation in Washington:




Die Euro-Verbändeszene im Überblick
E&A schätzt, dass in Brüssel rund 1500 europäische Wirtschafts- und Branchenverbände ihren Sitz haben. Drei Fünftel von ihnen sind traditionelle Föderationen nationaler Verbände, ein Viertel haben sowohl nationale Verbände als auch Unternehmen als Mitglieder. Nur ein Sechstel dieser Verbände haben ausschließlich Unternehmen als Mitglieder.

Verlässliche Statistiken über Verbände in Brüssel gibt es laut E&A nicht. Die Berater beziehen sich auf eine Auswertung mehrerer Datengrundlagen: Running an International Association in Belgium - 2010, European Public Affairs Directory - 2009, Yearbook of International Organisations 2009 (Union of International Organisations), European Transparency Register List of Code of Conduct signatories, Oktober 2010.

Im Anhang der Studie präsentieren E&A historische Meilensteine der Verbändeentwicklung in Brüssel. Festgemacht an der Gründung der EWG (1957), der Einheitlichen Europäischen Akte (1985), dem EU-Vertrag von Maastricht (1992) und dem Lissabon-Vertrag (2009), sieht die Beratungsfirma die Meilensteine in der Gründung von Dachverbänden zu Beginn, zunehmender Spezialisierung, professioneller Unterstützung des Verbändemanagements ab den 1980ern, größerer Bedeutung für demokratische Beteiligung und für die Politikfelder Soziales, Gesundheit und Umwelt in den 1990ern sowie schließlich Transparenzbedingungen und weiterer Spezialisierung im letzten Jahrzehnt.

Weitere Studie zu Euro-Verbänden:
EurActiv (2009) Federations Survey (Zusammenfassung)

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