Freitag, 26. August 2011

Tech-Lobby: Wie ein Hinterbänkler eine IT-Revolte auslöste und einen Weltkonzern verstörte

In "Wie der Pinguin nach München kam" blickt Spiegel Online auf die Entscheidung der Stadt 2004 zurück, auf ihren 15.000 Rechnern statt Windows das freie Betriebssystem Linux und entsprechende Anwendungen (z.B. OpenOffice) zu verwenden. Auch Die Welt greift das Thema auf ("Alles für die Freiheit!")

Das  "LiMux"-Projekt  (Linux + München) ist bis heute nicht problemfrei -- zahlreiche Extra-Programme mussten geschaffen werden. Noch sind nur 6900 Rechner völlig Windows-frei, bis 2013 sollen es 12.000 sein.

Aber jenseits der Technik: Was für ein politischer Paukenschlag war das damals!

Politischer Paukenschlag für den E-Government-Markt
Für Münchens OB Christian Ude war es ein Prestigeprojekt, und er wollte es als wettbewerbspolitisches Signal gegen Monopole verstanden wissen. "Freiheit" war sein Schlagwort. IT und Verwaltungsinterna sind normalerweise keine Themen, mit dem sich ein politischer Blumentopf gewinnen lässt. Doch Ude witterte die Chance, sich zu profilieren.

Ude ging es keineswegs nur um seinen Ärger über Microsoft, das weltweit den Support für Windows NT auslaufen ließ, mit dem die Münchner Rechner liefen. Microsoft wollte so ein Upgrade auf Windows XP und Office XP erzwingen. Der Stadt München bot Microsoft das Upgrade für 37 Mio. Dollar an -- aus Udes Sicht völlig überzogen. Vielmehr sah er die Chance, bundesweit und sogar international ein politisches Feuerwerk zu entzünden. So beauftragte er IT-Spezialisten, um Alternativen zu finden. Und der Rat folgte: Bis auf die CSU-Fraktion stimmten alle Abgeordneten der Ratsversammlung gegen Microsoft.

Für Microsoft war es ein PR-Desaster, und jeder Softwarehersteller -- von SAP bis Oracle -- fühlte sich bedroht. Wenn proprietäre Programme durch frei verfügbare Software in großem Stil ersetzt werden könnten, wären die Folgen für das Geschäft mit Staat und Kommunen nicht absehbar.

Der E-Government-Markt war in den 1990ern zum gigantischen Wachstumsfeld geworden, in dem sich Milliarden verdienen ließen. Die Umstellung auf moderne IT-Infrastruktur hatte viel mit dem "Neuen Steuerungsmodell" (New Public Management) zu tun, mit dem die Politik versuchte, die Behörden wie Unternehmen aufzustellen -- Leitungskennziffern, "Produkte" und Bilanzen inklusive.

Eine apokalytische Vorstellung, dass Großstädte, Landkreise und Landesbehörden ganz auf Open Source umstellen könnten -- und zwar nicht nur in den Datenzentren, sondern auf jedem Desktop in jedem Büro.

München ist schließlich keine Kleinstkommune, in der ein unbedeutender Bürgermeister mit einem Dutzend Rechnern experimentiert. Die Signalwirkung wurde durch die Bedeutung Münchens als deutscher IT-Hauptstadt vergrößert, in der auch Microsoft Deutschland seinen Sitz hat.

Es war ein "Stich ins Herz", so der Stern damals.

Microsoft in Panik: Steve Ballmer auf Rettungsmission in München

USA Today war der Münchner Coup
2003 einen Aufmacher wert
Microsoft-Chef Steve Ballmer brach 2003 gar seinen Urlaub ab und reiste nach München, um dem OB die Sache auszureden. Das machte international Schlagzeilen, schließlich beschäftigt sich so ein Welt-CEO normalerweise nicht mit Millionendeals, sondern mit Milliarden. Die Münchner Lokalpolitik sonnte sich in der Aufmerksamkeit. Zwar hatte auch das Bundesinnenministerium schon mit IBM eine Vereinbarung über einen Linux-Einsatz geschlossen, aber in seiner Radikalität war München ein Sonderfall.

Ballmer bot Ude drastische Preisnachlässe an, um das Geschäft mit der Stadt zu halten. Laut USA Today lag der Discount am Ende bei 35%, bei nur noch 23 Mio. Dollar. Ballmerbot Dinge an, die der Firmenpolitik massiv widersprachen, etwa verlängerte Support-Zeiten (6 statt der üblichen 3-4 Jahre) und Einzelkauf von Software wie Word ("Unbundling" der sonst üblichen Office-Pakete). Auch Personalschulungen und Support warf er auf den Tisch -- Dienstleistungen im Wert von vielen Millionen.

"Was in der großen Weltpolitik der Fall der Berliner Mauer war, das wird dieses Votum in unserer Branche sein"
Doch der Münchner blieb stur. Die Linux-Umstellung sollte deutlich teurer werden: Kurze Zeit später bekamen die Linux-Firmen SuSE und IBM für 35 Mio. Dollar den Zuschlag.

Kein Pathos war dem SuSE-Chef Richard Seibt damals zu viel: "Was in der großen Weltpolitik der Fall der Berliner Mauer war, das wird dieses Votum in unserer Branche sein", zitierte ihn der Spiegel.

Wie politisch brisant und weitreichend die ganze Sache war, konnte man zum Beispiel beim heftigen Streit um die EU-Richtlinie zu "computerimplementierten Erfindungen" (vulgo Softwarepatente) erleben. Der Kampf in Brüssel veranlasste die Stadtverwaltung München, die Ausschreibungen für den Umstieg von Windows auf Linux und Co. auf Eis zu legen -- die geplante Richtlinie beinhalte zu große rechtliche und finanzielle Risiken. Bei der Umstellung liefe München Gefahr, zahlreiche Softwarepatente zu verletzen und dann verklagt zu werden.

Mit großem Mediendonner schimpfte OB Ude auf die Europapolitik, forderte Kommunen und Verwaltungen dazu auf, gegen die Richtlinie vorzugehen -- und stellte sich damit gegen die eigene SPD-geführte Bundesregierung. "Alle an freier Software interessierte Kommunen und Unternehmen müssten jetzt auf Regierungen und EU-Gremien einwirken, damit der Entwurf des Wettbewerbsrates nicht europäisches Recht werde." (Spiegel 2004).

Eine Patentierbarkeit von Software bedeutet, dass selbst kleinste Anwendungen teuer lizenziert werden müssen. Mit ihren Patentanwälten gingen die großen Softwarehäuser schon damals aggressiv gegen Programmierer und IT-Unternehmen vor.

Nichts ließen die großen Softwarehersteller damals unversucht, um die EU-Institutionen dazu zu bringen, Patente auf Software zuzulassen. In den USA gang und gäbe, hatte sich die EU lange gesträubt. Die EU-Kommission und die Patentämter machten eine Kehrtwände -- doch eine breite Lobby-Kampagne von IT-Mittelständlern und Open-Source-Bewegung beeindruckte das Europäische Parlament schließlich so sehr, dass das Gesetzesprojekt gestoppt wurde.

Das Monopol ist nicht geknackt
Inzwischen ist klar, dass der Gigant Microsoft sich vom Kundenzwerg München nicht hat in die Knie zwingen lassen. Das Desktopsoftware-Monopol ist immer noch da, auch in Behörden. Renegaten wie München und andere Verwaltungen werkeln routiniert an den Schwierigkeiten ihrer Windows- und Office-Umstellung. Ein strukurelles Problem ist offenbar, dass der Vorteil von Open Source auf den PCs in Organisationen abnimmt, je größer sie sind (Dobusch, 2009).

Einheitlichkeit, die Verfügbarkeit von Spezialsoftware und Support-Personal ist dort nämlich sehr wichtig. Und da hat Microsoft mit seinem Angebots- und Expertennetz immer die Nase vorn. Das ist nicht nur technische, sondern Experten-Macht. Ökonomen sprechen von Netzeffektmärkten, die den Monopolisten ständig stärkt. "The winner takes it all", meint der IT-Experte Leonhard Dobusch lakonisch. Allerdings eröffne Linux eine Chance für innovative Wettbewerber.

Dobusch vergleicht vier Stadtverwaltungen – München, Frankfurt, Wien und Berlin. Sie teilen eine ähnliche Windows-Vorgeschichte: Einst begeistert vom Microsoft-Standard, stellten sie bald fest, dass sie in dem System aus Redmond gefangen waren. Das war deswegen problematisch, weil sich in den dezentralen Verwaltungen ein Wildwuchs von Fachsoftware und „selbstgestrickten“ Makros entwickelte. Ein Wechsel von Betriebssystem und Basissoftware führt daher zu einem  komplexen Reformknäuel.


Ein Hinterbänkler löst eine kleine Weltsensation aus
München, meint Dobusch, war eher ein "Pionier wider Willen". Interessanterweise begann der Linux-Paukenschlag laut Dobusch nicht mit einer visionären Strategie, sondern mit dem schlichten Antrag eines einzelnen SPD-Abgeordneten. Die kleine IT-Sensation hat ein Hinterbänkler ausgelöst. Gerd Baumann war laut Dobusch
der Paradefall eines gemeinhin und wenig schmeichelhaft als „Hinterbänkler“ bezeichneten Politikertypus: Der mit „Alternativen zu Microsoft-Produkten“ übertitelte Antrag war sein einziger in seinen sechs Jahren im Münchner Stadtrat, aus dem er kurz danach wieder ausschied. Als Baumann im Sommer 2001 seinen Antrag stellte, zielte er aber weder auf das Betriebssystem, noch hatte er Open Source Software als Alternative im Auge. Der Privatnutzer der proprietären „Ami Pro“-Textverarbeitung bezog sich vordringlich auf die Office-Umgebung und lehnte aus prinzipiellen Gründen die Monopolstellung Microsofts ab („Diese Marktmacht von Microsoft hat mich schon immer gestört, dass die einfach diktieren konnten, wann wir was zu welchem Preis kaufen müssen.“).
Die IT-Verwaltung wies Baumanns Antrag erst einmal brüsk zurück und stellte in einem offenbar nicht allzu ambitionierten Softwarevergleich dar, dass es keine Alternativen gebe. Das provozierte den zuständigen Ausschuss, der nun eine genauere Prüfung in Angriff nahm und abforderte. Dem fügte sich die IT-Verwaltung und holte sich Expertenrat.

"Der Versuch durch die IT-Verwaltung, den Antrag möglichst schnell abzuschmettern, hatte so die kontra-intentionale Konsequenz einer viel umfangreicheren und durch externes Wissen verbreiterten Suche nach Alternativen", stellt Dobusch fest. "Ein Jahr später hatte sich die Lage um 180 Grad gedreht." Denn nun wollten die IT-Spezialisten der Verwaltung eine Revolution, aber die Führungskräfte blockten ab: Ein Totalumstieg war der Behördenspitze zu riskant. OB Christian Ude machte das dann aus politischen Gründen zur Chefsache. Die Rollen und Präferenzen der Akteure aus IT, Verwaltung und Politik veränderten sich teilweise mehrfach, stellt Dobusch fest. Viele Meilensteine waren offenbar nicht geplant, nicht beabsichtigt.

Es hätte in München wohl auch ganz anders laufen können. So wie in Frankfurt etwa. Am selben Tag, an dem die Münchner Ratsversammlung für die Grundsatzentscheidung für Linux votiert, trafen sich Frankfurts OB Petra Roth und der Microsoft-Deutschlandchef im Rathaus zur öffentlichen Unterzeichnung eines langfristigen Vertrags, mit dem sich die Stadt an das US-System band. In Frankfurt kam es trotz einzelner politischer und verwaltungsinterner Unzufriedenheit mit Windows nicht zu einer großen Diskussion. Dobusch meint:
Die Positionsmacht von Akteuren hat eine immense Bedeutung dafür, ob ihre diskursiven Beiträge überhaupt Folgen zeitigen. So scheint es weniger darum zu gehen, ob Zustimmung erzielt wird, als vielmehr, ob die positionale Macht ausreicht, eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema in Gang zu bringen – sei die erste Reaktion auch ablehnend, wie zu Beginn in München. Wer Diskussionen auslöst, mag vielleicht dennoch seine Ziele nicht erreichen – wer aber ignoriert werden kann, der ist schon gescheitert.
In Wien gab es dagegen Debatten. Sie führten aber zu einem „dritten Weg“ der Koexistenz zwischen Windows und Linux („Wienux“). Manche Verwaltungen leisteten leisen Widerstand gegen eine politisch gewünschte Zwangsumstellung und stellten zwischenzeitlich schon mal wieder von Linux auf Windows um. Die Wiener halten sich für die Zukunft beide Optionen offen, also Rückkehr zu Windows oder weitergehender Umstieg auf Linux. "Der Preis für diese Flexibilität ist eine vergleichsweise üppig ausgestattete IT-Abteilung", so Dobusch. Was ja auch eine schöne Sache ist und das alte Parkinson'sche Diktum bestätigt, dass sich die Bürokratie vor allem um die Vermehrung von Stellen und Budgets kümmert.

In Berlin gab es laut Dobusch ein diffuses Bild: "Die zwölf Bezirksverwaltungen teilen sich ebenso in Befürworter und Gegner eines Wechsels zu Linux wie Akteure in den zentralen IT-Bereichen und der Politik, wobei dort die Spaltung quer durch die in Berlin regierende SPD geht." Das Berliner Abgeordnetenhaus stimmte für einen „Auflagenbeschluss“ zur Prüfung eines Wechsels auch am Desktop und drängte die Verwaltung zur schnellen Umsetzung. Beim Senat fand man die Idee wenig sinnvoll. Bei den Bezirksverwaltungen ergaben sich weitere Konfliktlinien. Relevant war offenbar die fehlende Unterstützung der IT-Zentrale.
Gerade der Misserfolg in Berlin demonstriert, welch entscheidende Scharnierfunktion zwischen Führungsspitze und dezentralen IT-Stellen die zentralen IT-Bereiche erfüllen. Wenn die zentrale IT auch nicht alleine einen Wechsel durchsetzen könnte, Ihre Positions- und Expertenmacht an neuralgischer Stelle in der Stadtverwaltung verschafft ihr aber zumindest die Möglichkeit zur Blockade.
Lehren für Politik und Verwaltung
Dobusch zieht das Fazit, dass München immerhin gezeigt habe, dass ein Linux-Umstieg möglich und machbar ist. Alleine dieser Umstand habe für Microsoft aus einer Herde von „Goldeseln“ wieder Kunden mit Verhandlungsspielraum gemacht. Es gebe weiterhin ein "Potential, die Marktstruktur völlig umzukrempeln". Einige der Lehren für Politik und Verwaltung:
Das Frankfurter Beispiel zeigt, dass keine Entscheidung auch eine Entscheidung ist. Wer die Frage nach einer Alternative „sofort verwirft“, „nicht ernsthaft prüft“, also gar nicht stellt, beraubt sich damit der Möglichkeit einer echten Entscheidung und ist dazu verdammt, den einmal eingeschlagenen Weg fortzusetzen. Das (zumindest bislang) gescheiterte Migrationsprojekt in Berlin sowie die geringe Umstellungsquote in Wien demonstrieren die Notwendigkeit zentralen Commitments sowie die Vorteile einer Projektorganisation. Die Umstellung von Windows auf Linux ist eine Investition in die Zukunft, die sich nicht ohne weiteres neben dem Tagesgeschäft erledigen lässt. Für den Erfolg des Münchner Projekts wiederum ist sicherlich auch die Einstellung neuen Personals mitverantwortlich. „Frisches Blut“, die Aufnahme junger und linuxbegeisterter IT-Arbeitskräfte, sorgte nicht nur für zusätzliche Kompetenzen sondern auch für Schwung und Motivation.
Politik, Organisation und Technologie sind also eng miteinander verwoben. Wie die Entscheidungsprozesse verlaufen und was später bei der Umsetzung passiert, ist nicht immer planbar. Kleine Dinge können große Folgen haben, aber nur in einem bestimmten Kontext. Manchmal passiert gar nichts. Politische Führung und Symbolik auf höchster Ebene sind ebenso wichtig wie die internen Lobbies, die vor allem auf der Langstrecke über Erfolg oder Misserfolg entscheiden.

Dobusch, L. (2009). Windows versus Linux: Großstädtische Migrationsprojekte im Vergleich. Beitrag für die Konferenz „Berlin Open'09“. Abgerufen von http://www.dobusch.net/pub/uni/200906cp.pdf [26.8.2011].

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