Sonntag, 11. September 2011

Gesetzgebung: Der Regierung das Initiativrecht nehmen?

"Die Regierung hat ihr Inititativrecht für Gesetzesvorlagen gründlich missbraucht", schreibt der frühere Bundesrichter und heutige Linken-Fraktionsjustitiar Wolfgang Neskovic heute in einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung ("Finsternis im Hohen Haus: Die Macht zur Rechtssetzung liegt in den Ministerien, Parlament und Abgeordnete verzwergen. Wir brauchen eine Verfassungsänderung", 11. Sept., S. 15).

Neskovic fordert eine Verfassungsänderung, "nach der der Regierung die Mit- und Zuarbeit am Gesetzgebungsprozess über die Fraktionen untersagt ist". Der Bundestag solle seine Gesetzung "aus eigener Ideenfindung und eigener Facharbeit" entwickeln. Neskovic ist sich über die "dramatischen" Folgen im Klaren und er weiß, dass dafür Personal, Geld und Infrastruktur erforderlich sind. Er will ein erhöhtes Anforderungsprofil, das "Fachpolitiker fördern und politische Schwätzer schwächen" soll, besser informierte, unabhängigere und persönlich verantwortungsvollere Abgeordnete.

Er begründet seine Position auch damit, Lobbyismus "in der öffentlichen Atmosphäre des Parlamentes transparenter" zu machen und Partikularinteressen zurückzudrängen. Neskovic meint:
Die Herauslösung der Rechtssetzungsmacht aus dem Bundestag hat Ursachen. Sie liegen nicht allein im "natürlichen" Bestreben der Regierungsgewalt, die eigene Macht zu mehren. Ein anderer Grund lieg in der wachsenden Verflechtung von Lobbyisten mit den Vertretern der Exekutive. Die deutsche Lobbylandschaft hat längst begriffen, dass die Ministerien für ihre Bemühungen nicht nur besser erreichbar sind, sondern auch viel mehr Macht haben als das Parlament. Zumal Parlamentarier deutlich größeren Transparenzzwängen unterliegen als die Vertreter der Bundesministerien.
Lobbyismus und exekutive Machtkonzentration sind natürliche Partner im Kampf gegen die Gewaltenteilung. Die Lobbyisten können gezielter und geräuschloser Einfluss auf die Politik nehmen. Das stille Bündnis mit der Wirtschaft mehr die Macht einer Regierung. Niemand - das gilt als abgemacht - kann gegen die Wirtschaft Politik machen.
Die Zuspitzung ist hart, aber zumindest zum Teil gerechtfertigt. Die Verflechtung ist groß und lässt an Transparenz zu wünschen übrig. Allerdings ist es fragwürdig, das Argument auf die Interessenvertreter der Wirtschaft zu reduzieren: Wohlfahrtsverbände, Umweltschützer, Gewerkschaften und viele andere machen es genauso.

Zudem suggeriert Neskovic, dass die Interessenvertreter gern im Dunklen mit den Ministern und Ministerialbeamten kungeln. Die Zusammenarbeit ergibt sich zunächst einmal ganz pragmatisch aus der Konstellation, dass die oft sehr komplexe Rechtsmaterie von Experten vorbereitet werden muss, und die Lobby steuert das für die Regierung wertvolle Expertenwissen bei. Ein großer Teil der Materie interessiert nur sehr wenige Politiker, sie ist für die große Bühne des Parteienstreits eher wenig geeignet Umgekehrt suchen Lobbies dann die Bühne, wenn sie eine große Debatte wollen und nicht die gezielte Detaileinflussnahme auf einzelne Paragraphen.

"Natürlich" ist, dass kluge Lobbyisten ihren Einfluss so früh wie möglich geltend machen. Wer auf die Behandlung im Bundestag wartet, hat die besten Chancen bereits verpasst. Das Parlament ist dann das Ziel, wenn im Ausschuss noch an einzelnen Stellen nachkorrigiert werden kann -- in letzter Minute. Vielfach ist es sogar schon zu spät, wenn das federführende Ministerium die Verbände zur offiziellen Stellungnahme zu einem Referentenentwurf  auffordert (GGO Kap. 6, Abschnitt 3 Beteiligungen und Unterrichtungen, insb. § 47 Beteiligung von Ländern, kommunalen Spitzenverbänden, Fachkreisen und Verbänden). Vielmehr liegt die Kunst darin, bereits auf die Vordiskussionen zum Vorentwurf Einfluss zu nehmen. Das ist in der Tat sehr weit weg von den Abgeordneten, die hier oft nur Zaungäste sind.

Eine so radikale Änderung, wie Neskovic sie vorschlägt, hätte zweifellos enorme Rückwirkungen auf die Prioritäten der Lobby. Wie das aussähe, kann man nirgendwo in Europa beobachten. Kein Wunder, denn der Vorschlag stellt das parlamentarische Regierungssystem auf den Kopf.

Ein funktionierendes Modell à la Neskovic hat nur Amerika mit seinem Kongress. Die Begründung für die große Ressourcenausstattung und Machtfülle in der Gesetzgebung, die zu einer intensiven Lobbyarbeit beim Kongress führt, liegt aber in der Machtkonzentration beim Präsidenten. Es ist ein Präsidialsystem mit austarierten "Checks and Balances". Das ist sicher nicht das, was Neskovic im Sinn hat, obwohl er sich mehrfach auf Montesquieu beruft -- den auch die US-Verfassungsväter zum Vorbild ihrer Gewaltenteilung machten.

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