Mittwoch, 16. Juni 2010

Lebensmittel: Rot für die Ampel

Ist das schon das Aus für eine EU-weite Nährwert-Ampel? Scheint so. Nach lebhafter Debatte fand sich im Europäischen Parlament zwar eine Mehrheit dafür, dass Lebensmittelverpackungen verpflichtende Informationen zum Nährwertgehalt und Tagesbedarf enthalten sollen. Aber bei der Abstimmung über den Entwurf einer EU-Verordnung fiel der Vorschlag einer Ampel für Salz-, Zucker- und Fettgehalt in verarbeiteten Lebensmitteln durch. 559-mal ja, 54-mal nein und 32-mal enthalten, das war das Ergebnis für Berichterstatterin Renate Sommer (EVP/CDU).

Eigentlich ist das ein gutes Ergebnis: Es kommt zu einer Vereinheitlichung in Europa, die Kennzeichnungspflicht wird stark erweitert, und die Mehrheit ist dermaßen deutlich gegen die Ampel, dass eine jahrelange, heftige und reichlich verzerrte Debatte jetzt erst einmal beendet ist. Auch wenn die Einigung mit dem Rat wohl noch einige Zeit benötigen wird: dass die Minister das Fass noch einmal groß aufmachen, ist nicht zu erwarten.

Das Echo bei Medien und manchen NGOs: ein Gebrüll der Empörung, wie zu erwarten. Verrat! Als hätte es nicht auch eine komplexe Sachdebatte mit viel Expertenverstand gegeben, bei denen die Ampel als Konzept eben ihrer Strahlkraft beraubt war.

"Sie predigen den mündigen Verbraucher, verhindern aber jede Aufklärung"

Susanne Amann vom Spiegel kommentiert unter dem Titel "Grün, gelb, stopp" ziemlich erbost das Geschehen. "Ein Sieg der Lobbyisten, ein Armutszeugnis für die Politik", meint sie.

Eine Milliarde Euro habe die europäische Lebensmittelindustrie (nach eigenen Angaben) für den Kampf gegen die Ampelkennzeichnung von Nahrungsmitteln ausgegeben. "Das Votum ist ein fatales Beispiel dafür, wie Politik sich ihren Gestaltungsspielraum von der Industrie hat abnehmen lassen."
Dass die europäischen Lebensmittelkonzerne, die im Jahr rund 965 Milliarden Euro umsetzen, kein Interesse an einer transparenten, klar verständlichen und eindeutigen Kennzeichnung von Inhaltsstoffen hat, ist nachvollziehbar. Bis zu einem gewissen Punkt ist es sogar legitim - verdient sie doch ihr Geld mit dem Versprechen vom gesunden, bequemen Konsum, der ohne Folgen bleibt. (...)

In unzähligen Sonntagsreden wird der Kampf gegen Übergewicht beschworen, jede Regierung stellt einen neuen "Nationalen Aktionsplan Fehlernährung" auf und gründet ein Bewegungsforum nach dem anderen. Wirklich getan aber hat sich nichts - im Gegenteil.

Es ist peinlich, dass Parteienvertreter wie die CDU-Berichterstatterin Renate Sommer die Argumentationslinie der Industrie fast im Wortlaut übernehmen. Sie scheuen sich nicht, vor drohender "Fehl- und Mangelernährung" zu warnen, die angeblich durch die farbliche Kennzeichnung von Lebensmitteln droht. Sie haben die Dreistigkeit, wissenschaftliche Untersuchungen einfach zu ignorieren, die die Verständlichkeit der Ampel belegen. Sie predigen den mündigen Verbraucher, verhindern aber jede Aufklärung. Dabei ist es unter Experten längst ein offenes Geheimnis, dass Übergewicht ein Bildungsproblem ist, weshalb es einer klaren und verständlichen Kennzeichnung bedarf. (...)

Doch die Politik ist ihrem Gestaltungsauftrag nicht nachgekommen. Sie hat ihre eigene Macht ohne Not abgegeben und der Industrie keine Grenzen gesetzt. Das ist ein Armutszeugnis. Die Industrievertreter werden sich ins Fäustchen lachen.
Konzerne bleiben in der Defensive

Amann hat damit Recht, dass das von der Industrie als Alternative vorgeschlagene GDA-Kennzeichnungssystem "weder besonders einleuchtend noch besonders präzise" ist, auch dass die Berechnungsbasis fragwürdig ist. Richtig liegt sie auch damit, dass der Zeitverzug der Politik der Industrie die Chance gegeben hat, schnell das GDA-System flächendeckend in Europa einzuführen -- und damit Fakten zu schaffen.

Das war clever, ja, im Nachhinein sieht das so aus. Aber es war in der Industrie auch umstritten und schwierig durchzusetzen. Nein, die Industrievertreter lachen sich nicht ins Fäustchen. Sie wurden massiv getrieben und vorgeführt, sie waren und sind in der Defensive, sie fühlen sich heute ganz anders kontrolliert als noch vor wenigen Jahren. Mal im Ernst: Wenn die Zahl eine Milliarde Euro für die Ampel-Abwehrschlacht stimmt (?), das gibt keine Industrie - schon gar nicht mitten in der Wirtschaftskrise - ohne Not für Politik und PR aus.

Hat die Politik wirklich versagt? Sie hat - zusammen mit den NGOS - zunächst einmal das Problem prominent auf die Tagesordnung gesetzt. Sie hat auf ein öffentliches Bedürfnis reagiert. Sie hat so viel Druck erzeugt, dass die Industrie in erstaunlicher Geschwindigkeit freiwillig ein Kennzeichnungssystem entwickelt und umgesetzt hat. Es ist offensichtlich – GDA wäre (als für die Industrie kleineres Übel) nicht gekommen, hätte es die jahrelangen Debatten nicht gegeben.

Das ist immerhin ein Ergebnis und eine reale Veränderung. Zum Besseren im Vergleich zu vorher. Auch das ist "Aufklärung" und nicht nur "Sonntagsreden". Da hat sich viel bewegt.

Hätte die Industrie kein GDA präsentiert und bereits umgesetzt, wäre bei den parlamentarischen Beratungen ein von Beamten und Politiker ausgetüfteltes Kennzeichnungssystem als Kompromiss entstanden -- wäre das wohl besser gewesen als GDA und Ampel zusammen? Auch nicht unbedingt wahrscheinlich.

GDA ist nicht toll. Aber wäre die Ampel wirklich besser?

GDA ist nicht toll. Aber wäre die Ampel besser? Eine satte Mehrheit im EP war davon schlicht nicht überzeugt. Es gab eine solide Minderheit, die die Ampel sogar für ziemlichen Unfug gehalten hat. Dafür muss man sich nicht von Nestlé- und Coke-Lobbyisten beschwatzen lassen. Ein bißchen common sense reicht aus.

Die Ampel ist auf den ersten Blick attrativ und plausibel, keine Frage. Aber bei simplen Lösungen für komplexe Probleme muss man misstrauisch werden. Wer mehr als einmal im Monat für die Familie einkauft und sich die Produkte im Einkaufswagen anschaut, kommt zu dem Schluss: Erstens hätte die Ampel bei vielen Lebensmitteln widersprüchliche und verwirrende Angaben gemacht, die der von GDA in nichts nachstehen. Zweitens ist nicht das einzelne Lebensmittel entscheidend, sondern der Ernährungsmix.

Drittens ist nicht nur Politikern, sondern auch Verbrauchern aufgefallen, dass der Feldzug von Foodwatch, Verbraucherzentralen & Co auch sehr viel mit Eigenmarketing und Inszenierung zu tun hatte.

Beim Ampel-Feldzug ging es nicht nur um die Sache

So viel Aufmerksamkeit in den Medien haben die Ampel-Lobbyisten sonst für kaum ein anderes Thema bekommen. Sie hatten ein Interesse an der aufgeregten Polarisierung und dem Kampf David gegen Goliath. Die Kampagne ernährte die Kampagne.

Die Giftspritzen gegen "die Lobbyisten" (gemeint sind nicht die für, sondern gegen die Ampel) sind unnötig. Man kann beim besten Willen nicht behaupten, das EP habe die Thematik in den Hinterzimmern weggemauschelt. Öffentlicher ging es ja gar nicht mehr. Die "dicken Kinder", die WHO-Warnungen und so weiter waren auf allen Kanälen.

Aber: Die Ampel einführen, nur um die Konzerne vorzuführen? Das wäre revanchistische Symbolpolitik mit begrenztem Nutzen für die Praxis. Wahrscheinlich hätte sich die Ampel in kürzester Zeit als ziemlich nutzlos und reparaturbedürftig erwiesen. Ein paar Jahre später wäre sie vermutlich in eine Art Krypto-GDA umgewandelt worden.

EU-Verbraucherpolitik kann schlimmere Entscheidungen fällen als die am Mittwoch. Das Europäische Parlament folgt in der Verbraucher- und Umweltpolitik sonst gern den strengen Forderungen der NGOs, auch gegen massive Einflussnahme durch Konzerne. In diesem Fall waren die Argumente schlicht nicht gut genug.

Dafür ist ein Parlament ja nun auch da: die Bürger - und die Wirtschaft - vor unausgereifter Politik zu bewahren.

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