Mittwoch, 16. Juni 2010

Lobbying in China

China bleibt ein Rätsel für das westliche Verständnis politischer Kommunikation und Interessenvertretung. Mit transparentem Lobbying in einer Demokratie konkurrierender Parteien, freier Medien, starker Zivilgesellschaft und autonomen Unternehmen kann die Praxis dort nicht viel zu tun haben, darüber ist sich jeder Beobachter klar. Handfeste Lösungen benötigen aber alle Unternehmen, die im bald größten Markt der Welt ein Stück vom Kuchen abschneiden wollen. Geschäft ohne Politik gibt es in China noch weniger als bei uns.

Westliche PA-Agenturen und Lobby-Firmen (offiziell natürlich Investment- und Kommunikationsberater) haben Filialen in China eröffnet. Auf Websites wie PublicAffairsAsia.com nimmt China eine zentrale Rolle ein, und im Web kursieren Tipps zur richtigen Lobbypraxis, etwa wie man chinesische Produktstandards zum eigenen Nutzen beeinflussen kann. Aktuell ist die Expo 2010 in Shanghai ein Lobby-Thema: die Weltausstellung ist schließlich auch ein Forum für Politik und Wirtschaft. Die interkulturelle Problematik -- Warnung vor Gesichtsverlust und Respekt zeigen vor dem chinesischen System -- spielt auch stets eine Rolle. Öffentliche Angriffe auf Peking (à la Google) sind offensichtlich kein Weg zu mehr Einfluss. Aber was dann? Langzeit-Beziehungen aufbauen, aufmerksam zuhören, den Nationalismus der Chinesen akzeptieren, die eigenen Interessen in Einklang mit den Regierungszielen bringen, die lokale Perspektive nutzen -- all das sind übliche Expertentipps. Verunsicherung herrscht allerdings immer wieder darüber, inwiefern offene Lobbyarbeit ohne die verbreitete Korruption funktionieren kann (thematisiert z.B. hier in der Washington Post).

Aktuelle Handbücher zur Lobbyarbeit im Reich der Mitte sind allerdings noch Mangelware. Das Standardwerk ist immer noch The Business of Lobbying in China von Scott Kennedy (Harvard University Press, Cambridge 2005).

Politikbeziehungen stehen ganz oben an für jeden, der in China Geschäfte machen will. Das ist in jeder Diktatur so, aber der dramatische Wandel von der Kommando- zur Marktwirtschaft hat auch die Public Affairs der Unternehmen in China stark verändert. Scott Kennedy beschreibt, wie die chinesischen Unternehmen und ihre ausländischen Partner der neuen Aufgabe entgegentreten, die Politik von besseren (oder zumindest anderen) Entscheidungen zu überzeugen.

Die Konflikte sind gigantisch. Zwar werden Prestigeprojekte der Regierung bewundernswert schnell durchgezogen, ohne dass groß über Umweltschutz oder Beteiligungsrechte gesprochen würde. Doch im Geschäftsalltag sieht das anders aus: Alles ist geregelt, nur nicht systematisch und eindeutig. Und nicht wenige Behördenleiter benehmen sich wie moderne Warlords.

Es ist noch nicht lange her, als die chinesischen Beamte praktisch die gesamte Wirtschaft selbst verwaltet haben. Die Reformpolitik dauert nun schon über 20 Jahre, doch noch immer ist die Bürokratie so groß wie der Appetit der Politiker auf direkte Interventionen.

So ist auch für den Asienexperten Kennedy das Lobbying in China zunächst einmal ein Rätsel und ein Puzzle unzähliger Teile. Die bisherige Literatur hilft nur begrenzt weiter, findet er. Der Wandel lässt es unklar erscheinen, ob China nun eher ein korporatistisches oder schon pluralistisches Lobbysystem darstellt. Und zu Recht weist er darauf hin, dass Marktreformen nicht von selbst eine Wirtschaftsbürgerschaft entstehen lassen, die sich selbstbewusst gegen staatliche Eingriffe wehrt und Regulierung beeinflussen kann.

Mehr als Guanxi

Stattdessen verlassen sich viele auf die Guanxi - die persönlichen Beziehungen zwischen Patron und Klienten, gut geschmiert durch Gunstbeweise an der Schnittstelle zwischen Politik und Wirtschaft. Kommerzieller Klientelismus also, vertikale Allianzen, die oftmals die horizontale Kooperation der Unternehmen beim Branchenlobbying überlagern. Unternehmen und Branchen suchen sich bei den Eliten und Behörden einen mächtigen Patron oder mehrere, mit dem sie sich in einer Art Schutz-und-Treue-Verhältnis arrangieren.

Allerdings, betont Kennedy, ist das heute vor allem in Regionen und Gemeinden zu sehen: Auf der nationalen Ebene sind die Akteure und Zugänge und Konkurrenz so vielfältig, dass das alte System nicht mehr funktionieren kann. Öffentliche Entscheidungen, die nur ein Unternehmen betreffen und recht informell verhandelt werden (wie z.B. Genehmigungen oder Fördermittel) unterlägen oft Klientelismus und Korruption, so Kennedy. Am anderen Ende des Kontinuums ständen Entscheidungen, die nicht branchenspezifisch sei oder das ganze Rechtssystem beträfen -- hier sei eine breite politische Entscheidungsfindung nötig, bei der auch die Wirtschaft gehört werde, aber nur begrenzt. Den größten Einfluss könne die Wirtschaft dort auf Politik haben, wo branchenspezifische und industriepolitische Entscheidungen in einem Mix von informellen und formalen Verfahren fielen.

Verbände

Problematisch und dysfunktional interpretiert Kennedy die chinesische Verbändelandschaft, die zum größten Teil staatlich erschaffen wurde und deren Mitgliedsverbände direkt Behörden und Ministerien zugeordnet werden. Auf der nationalen Ebene sind rund 400 Verbände aktiv, regional und lokal mehrere 10.000. In China ist es durchaus üblich, dass Politiker und Beamte auch Funktionärsposten in Wirtschaftsverbänden übernehmen. Sie haben also zwei Hüte auf -- ein Phänomen, das auch in Deutschland lange verbreitete Praxis war. Allerdings ist der Einfluss solcher "eingebauten Lobbyisten" auf die nationale Wirtschaftspolitik in China offensichtlich ein anderer und viel direkter.

Kennedy schreibt: "Immer noch verbreitet ist eine eingeschränkte Autonomie der Wirtschaftsverbände — entstanden durch die staatliche Rolle in ihrer Gründung, ihrer Anbindung an staatliche Stellen und die Präsenz der staatlichen Vertreter im Führungspersonal." Ausländische Unternehmen haben übrigens nicht grundsätzlich das Recht, Mitglied in diesen Verbänden zu werden, und ausländische Verbände müssen schon viel Glück haben, um sich eine offizielle Adresse geben zu können.

Die Industrie sei durchaus in der Lage, über verschiedene Kanäle - auch den im Westen meist belächelten Nationalen Volkskongress - der Regierung zu signalisieren, wenn z.B. eine Steuer die Wirtschaftsleistung bedroht und Arbeitslosigkeit erzeugen würde. Darauf reagiere die Politik durchaus.

Fallstudien

300 Interviews hat Kennedy geführt - mit Unternehmenschefs, Wirtschaftsverbänden, Behörden und Politikern. Kennedy belässt es nicht bei einer allgemeinen Beschreibung, sondern vergleicht konkret das Lobbying in der Stahl-, Elektronik- und Softwareindustrie. Er zeigt, wie differenziert die Regierung inzwischen die Wirtschaft reguliert - hier mit Steuern, dort mit technischen Standards, dort mit den - Stichwort Raubkopien - umstrittenen Patent- und Urheberrechtsschutzvorschriften.

Stahlunternehmen sind noch vorrangig in staatlicher Hand, so Kennedy, während die Unterhaltungselektronik vom privaten Sektor dominiert wird. Beim Stahl sind die Verbände weniger wichtig, weil es ohnehin ein enges Politik-Unternehmens-Geflecht gibt. Die Softwareindustrie, so Kennedy, ist stärker internationalisiert als andere Branchen und geprägt von einer jungen, hochqualifizierten und mobilen Arbeitnehmerschaft, die ihre Interessen auch zu vertreten weiß. Ebenso sind die Verbände unabhängiger. Kennedy bewertet sie allerdings auch als schlechter aufgestellt im Verhältnis zum Staat, als politisch weniger aggressiv und weniger effektiv. Dafür seien aber sogar kleinere Software-Unternehmen bereit, sich politisch gegen die Politik zu stellen und ihre Interessen pointiert zu formulieren.

Der Politikwissenschaftler von der Indiana University kommt zu dem Ergebnis, dass die Lobbyisten dieser Branchen zwar im selben politischen System agieren, jedoch ganz und gar nicht nach denselben Spielregeln und denselben Prioritäten. Denn das politische und wirtschaftliche Umfeld ist sehr unterschiedlich: So sind in manchen Teilen der Wirtschaft noch sehr viele Staatskonzerne tätig, in anderen haben private längst die Nase vorn. Konzentration und Monopolstellung spielen ebenso eine Rolle wie die technologische Führungsstärke.

Prognosen

Kennedy prognostiziert, dass die politisch einflussreichen Verbände und Großunternehmen zunehmend in Konflikte mit neuen staatlichen Akteuren geraten werden. Ein Beispiel dafür, so Kennedy, sind die Umweltbehörden. Darum musste sich die Stahlbranche lange nicht kümmern. Inzwischen steigt jedoch das Bewusstsein für drastische Umweltschäden, Statistiken belegen die Probleme, und die Regulierungsmacht lässt die Muskeln spielen. Während der klassische Wirtschaftsplan (im Sinne der Planwirtschaft) nur noch begrenzte Bedeutung habe, spielt die Musik heute in einer ungeheuren Gesetzesproduktion mit Tausenden von Detailvorschriften quer durch alle Wirtschafts- und Lebensbereiche.

Kennedy kommt zu dem Schluss, dass die Angst vor einem Amoklauf der immer mächtigeren Wirtschaft ein schlechter Ratgeber für die nächsten Reformschritte wäre. Der Einfluss der Wirtschaft werde wachsen, so oder so. Wer nun im Sinne des Marktes komplexe Institutionen aufbauen will, die effizientes Verhalten fördern, müsse auch bei der Politik die Barrieren schleifen: und das bedeute, mehr und nicht weniger Partizipation der Unternehmen zuzulassen sowie alles, was den Aufbau neuer politischer Organisationen stören könnte, deutlich zu vermindern. Und schließlich bedeute es, dass Lobbying selbst als Industrie begriffen werden sollte -- womit die Notwendigkeit einer Regulierung der Branche gegeben sei: über die Lobbypraktiken, über Geldflüsse und Spesen, und über Interessenkonflikte.

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