Dienstag, 14. September 2010

Enrons Einfluss: Lobby-Forscher wühlen sich durch 200.000 Emails - und überraschen

Enron, da war doch was? Richtig, das war der 2001 kollabierte Skandalkonzern, verewigt im Film The Smartest Guys in the Room (2005). Die "World's Greatest Company" (Eigenwerbung) mit 22.000 Mitarbeitern war ein Wall-Street-Riese, leider wesentlich erfolgreicher bei Bilanzfälschung als beim Energiehandel. Dem Zusammenbruch des Imperiums verdanken wir unter anderem den auch in Europas Wirtschaftsrecht wichtigen Sarbanes-Oxley-Act und einiges mehr. Das war damals nicht nur ein Wirtschaftskrimi, sondern auch ein Lobby-Lehrstück. Enron entzog sich der Aufsicht, nutzte die schwache Regulierung und hatte stets gute Freunde in Washington.

Enrons Unterneh
menspapiere sind heute öffentlich zugänglich. Die Politikwissenschaftler Lee Drutman (Berkeley) und Daniel Hopkins (Georgetown) haben sich durch 200.000 interne Emails des Konzerns von 1999 bis 2002 gewühlt, um den politischen Aktivitäten auf die Spur zu kommen. Dank automatisierter Inhaltsanalyse-Software keine Herkulesaufgabe, scheint es.

Die Ergebnisse sind durchaus überraschend. Enron wurde als hochpolitisches Unternehmen gesehen, das seine Tentakeln in Ministerien und Kongress, Parteien und Wahlkämpfen ausstreckte, mit Geld um sich warf, um Politiker zu beeinflussen. Doch nur ein winziger Teil der internen Emails, sagen die Forscher, beschäftigen sich damit.

Die Enron-Mitarbeiter konzentrierten sich in politischen Angelegenheiten vorrangig aufs Monitoring, also Beobachtung und Auswertung relevanter politischer Prozesse, auf die Vermittlung von Informationen an die Politik sowie auf eher formelle Beteiligung an Vorgängen in Parlament, Ministerien und Regulierungsbehörden.

So folgern Drutman und Hopkins, das Unternehmens-Lobbying sei häufiger informations- als transaktionsorientiert gewesen, Transaktion insbesondere verstanden als das Tauschgeschäft "Geld gegen Einfluss". Das ist im US-Kontext besonders bemerkenswert, weil die Korrelation von hohen Partei- und Wahlkampfspenden und politischem Einfluss als ausgeprägt gilt und auch in der Politikwissenschaft recht stur als Grundwahrheit akzeptiert ist. Zahlreiche Studien und Theorie-Ansätze drehen sich um die finanziellen Anreize (oder Sanktionen), die US-Unternehmen Politikern bieten. Tatsächlich gibt es ein hohes Spendenaufkommen der Wirtschaft; da juristische Personen keine Parteispenden geben dürfen, koordinieren Unternehmen (und Verbände) insbesondere die Spenden ihrer Führungskräfte. Außerdem, so die Annahme, verfolgten Unternehmen die Wahlkämpfe intensiv und ließen nichts unversucht, um über die Kampagnen auf die personelle Zusammensetzung von Kongress und Regierung Einfluss zu nehmen.

Drutman und Hopkins stellen bei Enron hingegen fest: Lobbyarbeit sei vor allem fachliche Informationsarbeit gewesen. Parteipolitik und Wahlkämpfe ließen die Manager bei Enron kalt, sie kümmerten sich schlicht nicht viel darum.

Wie misst man Lobbying?

Wissenschaftler haben dabei das schlichte Problem, das man Lobbyarbeit praktisch kaum beobachten und dokumentieren kann. Normalerweise haben weder Politiker noch Interessengruppen ein besonderes Interesse daran, ihr Miteinander allzu öffentlich zu machen. In den USA kann man zwar Spendenaufkommen, Abstimmungsverhalten und Dokumente des Lobbyregisters (im Vergleich zu Europa) sehr gut nachvollziehen, aber das ist natürlich nie die ganze Geschichte. Und auch Befragungen und Interviews liefern nicht die Art empirischer Daten, die man gerne hätte.

Die neuartige Forschungsidee, die interne Korrespondenz der Enron-Manager auszuwerten, ist methodisch sehr interessant -- wenn man denn eine große elektronischer Sammlung politischer Dokumente hat. Durch Gerichtsprozesse und Beschlagnahmen kommt das in den USA durchaus öfter vor, legendär ist z.B. die Kollektion von vier Millionen Dokumenten der Tabakindustrie, die auch Lobby-Forschern glänzende Augen macht.

Der Computer filterte mit Satz- und Begriffsmustern die Emails mit politischen Inhalten heraus und gab den Forschern 2559 Emails zur persönlichen Analyse an die Hand. Sie kodierten die Inhalte nach zahlreichen Kriterien unter fünf Rubriken:
Wahlen, Monitoring, direkter Kontakt zu Politikern, Meinungsbildung (auch in den Medien) und formelle Beteiligung.

Schickt jemand eine Email, zeigt das Aufmerksamkeit für ein Thema, und wie häufig welche Begriffe fallen, ist ebenfalls eine messbare Funktion. Die Forscher können daraus auch quantitativ Schlussfolgerungen ziehen.

Nicht jeder benutzt Email, und nicht alle Themen tauchen in Emails auf. Das Top-Management bei Enron hielt sich offenbar zurück, aber die Government-Affairs-Leute produzierten reichlich Emails. Und das ist für die Forscher schon interessant.

Erwartungen

Wahlen und Wahlkämpfe, Fundraising für Parteien und Kandidaten standen für Enron nicht oben auf der Agenda. Unter den "politischen" Emails befassten sich nur 2% mit solchen Fragen.

Nach der Theorie, die finanzielle Anreize (oder Sanktionen) in den Mittelpunkt politischer Einflussnahme von US-Unternehmen stellen, müsste aber ein signifikanter Anteil der Emails speziell die systematische und sorgfältige Planung von Spenden, Auswahl von Empfängern, Teilnahme an Fundraising-Veranstaltungen, Involvierung in Wahlkämpfe zum Thema haben.

Ein anderer Ansatz sieht Interessengruppen vorrangig damit beschäftigt, im Netzwerk ihrer politischen Freunde und Bündnispartner im Kongress zu arbeiten und diese (mit wenig Personal- und Wissensressourcen) mit fachlicher Zuarbeit zu unterstützen (“lobbying as legislative subsidy”). Demzufolge müsste sich das Unternehmen darauf konzentrieren, ständig das politische Spiel der Gesetzgebungsprozesse zu verfolgen und strategische Büchsenspannerdienste zu leisten.
Hier kommt auch die Mobilisierung von Mitarbeitern, Geschäftspartnern, Kunden, Meinungsführern und Wählern (Grassroots-Kampagnen) ins Spiel.

Interessengruppen vermitteln in einem weiteren Ansatz vor allem Informationen an Politiker, die für diese wertvoll sind -- vor allem Expertenwissen und über die Stimmung der Wähler, nicht zuletzt in den Wahlkreisen. Sie wollen ja wiedergewählt werden. Lobbying wird in diesem Verständnis vor allem Überzeugungsarbeit, im direkten Gespräch und mit viel Papier, bei Anhörungen und Konsultationen, durch Studien, Vorträge und Gastbeiträge in meinungsführenden sowie Fachmedien.

Enron nutzte, so die Forscher, viele Werkzeuge. Auch Geld spielte eine wichtige Rolle, Enron gab im Jahr seines Zusammenbruchs auf der Bundesebene über $5 Mio. für Lobbyaktivitäten (Berater und eigene Büros) aus und über mehrere Jahre rund $2 Mio. jährlich für Zuwendungen an Kandidaten und Parteien. Enron war in diversen politischen Kommissionen zur Energiepolitik tätig, persönlich gut verdrahtet und in energiepolitischen Debatten präsent.

Ergebnisse

Die Tabellen der Forscher zeigen die Verteilung der Email-Inhalte recht klar. 66% der politischen Emails drehen sich um das Monitoring. Von diesen beschäftigen sich 56% mit öffentlich verfügbaren Informationen -- typischerweise leitet da ein Mitarbeiter einen Zeitungsartikel weiter. 43% der als Monitoring eingestuften Emails hatten dagegen Infos aus erster Hand zum Thema, beispielsweise aus Gesprächen mit Parlamentsmitarbeitern darüber, wie ein politischer Prozess gerade abläuft.

Rund 15% der politischen Emails befassten sich mit direkten Gesprächen mit Politikern und deren Mitarbeitern oder mit Gesprächen mit (potenziellen) Bündnispartnern. Die Email-Aktivitäten folgten dabei weitgehend dem Parlamentskalender. Rund 61% aus dieser Rubrik drehten sich um Kontakte zu Abgeordneten und die Versuche, diese von eigenen Positionen zu überzeugen und eigene Anträge durchzubringen.

Unter formeller Beteiligung an politischen Prozessen verstehen die Forscher Anhörungen in Parlament, Ministerien oder Behörden (z.B. die Regulierungsagentur, Federal Energy Regulatory Commission, FERC) sowie Konsultationen und offizielle Eingaben und Stellungnahmen. Für Enron war das wichtig. Rund 9% der politischen Emails beschäftigten sich damit, davon 71% mit formellen Stellungnahmen an Behörden, 16% mit Anhörungen.

Rund 6% der politischen Emails befassten sich mit Versuchen, in der öffentlichen Debatte um die Energie-Deregulierung Position zu beziehen und beim Agenda-Setting mitzuwirken - etwa bei Fachforen oder in der Presse.

Nicht viel, aber auch nicht insignifikant. Und noch deutlich mehr als der Anteil der Emails, die sich explizit um die finanzielle Unterstützung von Politikern kümmerten, um Fundraising für Kandidaten und Wahlkämpfe allgemein. Das waren nur noch rund 2% der Emails. Und unter dieser Handvoll waren einige, bei der das Unternehmen eher auf Anfragen der Politiker reagierte. Auch die Verkoppelung von Spenden und konkreten politischen Anliegen ist nicht durchgängig ersichtlich.

Um welche politischen Zielpersonen ging es in den Emails? Der Theorie nach konzentriert sich das Lobbying auf gewählte Politiker, überwiegend Abgeordnete (die im US-System deutlich mehr Einfluss auf die Gesetzgebung haben als der Bundestags). Rund 1000 Emails nannten spezifische Zielpersonen. 20% gehörten zur Legislative, 10% zur Regierungsmannschaft, 22% dagegen zu Verwaltungsbehörden und 19% zu Beiräten und Fachgremien. Während sich die Aufmerksamkeit für die Abgeordneten zu Wahlzeiten und zu Beginn einer Legislaturperiode erhöht, ist durchgängig hohe Aufmerksamkeit für die Bürokraten festzustellen.

Schlussfolgerungen

Enron wäre ein Paradebeispiel für den von der Marktidee inspierten Transaktionsansatz "Geld gegen Einfluss". Das Geschäftsmodell des Konzerns hing an der Deregulierung des Energiemarktes, es hatte sehr guten Zugang zur Spitzenpolitik, Unmengen von Geld, und ethische Bedenken hatten die Manager offensichtlich nicht viele.

Aber in der Email-Untersuchung spiegelt sich das überhaupt nicht wider, betonen
Drutman und Hopkins.

Dass sich Enron stattdessen so stark um fachliche Zuarbeit, formelle Beteiligung, Informationsrecherche und Kontakte zu Bürokraten statt Politikern gekümmert hat, widerlegt zwar nicht die theoretische Erwartung, dass der Konzern mit Geld Einfluss bei Politikern suchte. Das tat er ja auch.

Aber die Untersuchung stützt eher die Sicht, dass Enron Lobbyarbeit vor allem inhaltlich verstand, als Interessenvermittlung durch Informations- und Überzeugungsarbeit sowie dem Aufbau belastbarer Arbeitsbeziehungen mit Regulierern und Behörden, ungleich wichtiger als das Beziehungsnetz zu den Politikern.

Aus europäischer Sicht ist das Ergebnis per se vielleicht auf den ersten Blick nicht so überraschend. In Europa sind die Beziehungen der Lobbyisten zur Ministerialbürokratie stets enger als zu Parlamenten und Parteien, finanzielle Anreize und Sanktionen spielen eine weitaus geringere Rolle als in den USA. Aber Enron war eben ein amerikanischer Konzern, der nach amerikanischen Spielregeln spielte. Der Nexus Parteispenden/Einfluss prägt das Bild, das man sich von Washington macht, wo Milliarden Dollar für Wahlkämpfe ausgegeben werden.

Enron fällt, räumt man der Email-Untersuchung trotz aller Einschränkungen hohe Relevanz ein, als Kronzeuge aus. Enron war sicher keine typische Company. Aber wenn ausgerechnet Enron sich dem Parteispenden/Einfluss-Transaktionsmodell im tatsächlichen Verhalten sperrt, wie sieht es dann erst bei anderen, "normaleren" US-Großunternehmen aus? Möglicherweise ist Enron im Lobbying durchaus typisch gewesen. Und dann wäre typisch eben nicht die extreme Fixierung auf Lobbyarbeit per Scheckbuch.

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Hopkins, D. & Drutman, L. (2010, 20. August). The Inside View: Using the Enron Email Archive to Understand Business Lobbying. APSA 2010 Annual Meeting Paper.

Volltext bei SSRN. Eine Kurzpräsentation mit Grafiken und eine Diskussion finden sich auf dem Blog "The Monkey Cage".

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