Donnerstag, 18. November 2010

Wahnwitz Luftfracht: Agenda-Cutting, Politik- und Lobbyversagen

Der Paketbomben-Schock hat in der Politik hektischen Aktionismus ausgelöst. Jetzt hat man in Brüssel und Berlin Arbeitskreise gegründet, der Bundestag hat ganz schnell 450 (allerdings vorerst gesperrte) Extrastellen für Kontrolleure bewilligt – und der Wahnwitz fehlender Luftfracht-Kontrollen taucht in den Schlagzeilen kaum noch auf. Und unsere Regierung versucht, die Diskussion auf das Risiko "Drittstaaten" zu treiben, damit die massiven Sicherheitsdefizite im Inland nicht so laut diskutiert werden.

Gutes Agenda-Cutting!

Hinter den Kulissen aber geht es zur Sache:

  • Die Innenminister sehen ihre Chance, die Luftfracht-Kontrollen den eigentlich zuständigen Verkehrsministern und Luftfahrtbehörden zu entreißen, wie die Süddeutsche richtig feststellt. Die wehren sich heftig, unterstützt von Airlines und Logistikunternehmen, die lieber mit den alten Ressorts zusammenarbeiten wollen.
  • Die Luftfahrtunternehmen rechnen wegen neuer Sicherheitsvorschiften laut einer PwC-Umfrage mit massiven Kostensteigerungen – von dreistelligen Millionensummen ist die Rede. Sie wollen die Kosten dafür aber nicht alleine tragen, fordern mehr Verantwortung des Staates, der diese bisher aus Kostengründen auf Private abgewälzt hat.

Das hat Konsequenzen. Die 450 neuen Kontrolleurs-Stellen werden beispielsweise nicht freigegeben, solange nicht klar ist, welche Behörde sie bekommt. Und die Luftfahrt- und Logistikbranche hat keine Lust, sich die Haftung für die Sicherheit zuschieben zu lassen – solange die staatlichen Vorschriften und Kontrollen "Sicherheitslücken, die so groß sind wie Scheunentore" aufweisen, die die Deutsche Polizeigewerkschaft es formuliert.

Studie: Politikversagen und Lobbyversagen bei der Sicherheit

Dahinter steckt ein Politikversagen. Zuständigkeitswirrwar, überforderte Behörden, überforderte Unternehmen, eine schlecht durchdachte Privatisierung öffentlicher Sicherheit führten zu einer unkontrollierten Logistikkette.

Das ist Sicherheitskreisen seit langem bekannt und wird durch eine Studie "Sicherheitsrisiko Luftfracht in der Passage", die im Frühjahr 2010 am Wildau Institute of Technology (WIT) der Technischen Hochschule Wildau entstanden ist und von Report Mainz (ARD) aufgegriffen wurde, belegt.

"Das europaweit praktizierte Vorgehen im Bereich der Luftfrachtkontrollen für Passagiermaschinen ist von erheblichen Sicherheitsmängeln geprägt und grundsätzlich nicht geeignet, die Anforderungen an Sicherheitsstandards zu erfüllen", sagt die Autorin. 95 % der Fracht, die in Passagiermaschinen eingeladen wird, werde keiner Kontrolle unterzogen. Die Details machen fassungslos: Bei den resignierenden Behörden regiert offenbar die Hoffnung, dass schon nichts passiert.

Bei der von der EU geforderten Reorganisation der Sicherheitsvorgaben geriet die deutsche Regierung gar an den Rand einer heftigen Auseinandersetzung mit Brüssel: Die EU-Kommission hat wegen der Nichtumsetzung von EU-Recht Deutschland sogar ein Vertragsverletzungsverfahren angedroht, liest man in der Studie.

Die Studie stellt außerdem ein Lobbyversagen fest: Die bisherige Lobbyarbeit sei einseitig ausgerichtet, nämlich zugunsten der Fluggesellschaften und zulasten der mittelständischen Frachtwirtschaft. „Strukturelle Defizite in der Interessenvertretung“ sowie „Informations- und Transmissionsdefizite“ hätten bei der Formulierung der EU-Verordnungen große Teile der betroffenen Wirtschaft davon abgehalten, laut und deutlich zu fordern, die Zuständigkeiten für Luftsicherheitsfragen klar zu regeln und wirtschaftliche Nachteile für Firmen zu vermeiden.

Alles sicher – aber nur auf dem Papier

Wie reine Symbolpolitik wirken die Kontrollmaßnahmen zu Flüssigkeitsbehältern und Körperscannern für Passagiere ohnehin, aber die Sicherheits-Farce bei der Fracht – die zur Hälfte mit Passagiermaschinen befördert wird – entlarvt die staatlichen Maßnahmen erst recht.

Report Mainz (8.11.) zeigt, wie leicht Unbefugte bis in den Luftfrachtbereich von Industrie- und Logistikfirmen vordringen, die als "Bekannte Versender" und "Reglementierte Beauftragte" gelten. Die Fracht dieser Unternehmen gilt per se als sicher und muss deshalb nicht überprüft werden, bevor sie in ein Flugzeug gelangt.

Das sind "Sicherheitslücken, die so groß sind wie Scheunentore", sagt Rainer Wendt, Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft. Und das von der Politik gewollte Verfahren, auf dem Papier Sicherheit herzustellen, ist für ihn "bürokratischer Unfug", habe mit Sicherheit nichts zu tun.

65.000 Unternehmen in Deutschland gelten als "Bekannte Versender", die sich einfach durch Unterschreiben einer Blankoerklärung als "sicher" erklären und Fracht anliefern dürfen, die praktisch nicht weiter kontrolliert wird.

Schon gar nicht vom Staat. Das gibt auch Jan Mücke, Parlamentarischer Staatssekretär im Verkehrsministerium, zu.

Das ZDF-Heute Journal (8.11.) zeigt ebenso die haarsträubende Wirklichkeit: Der Staat hat die Verantwortung für Frachtsicherheit völlig dezentral und fragmentiert, geradezu unkontrollierbar an die privaten Spediteure abgeschoben. "Das wird vom Gesetzgeber einfach auf private Firmen verlagert, und wir haben keine Chance nein zu sagen", sagt der Speditionskaufmann Peter Schmitz von CSP Cargo Service Point. Die Sicherheitsdefizite seien in der Branche lange bekannt. Und was der Bundesinnenminister als "neue" Sicherheitsmaßnahmen verkaufe, sei weder neu noch sicher.

Die rund 65.000 Versender und Dienstleister in der Sicherheitskette sind überwiegend mittelständische Speditionen und Servicefirmen, die mit wirklich verlässlichen Sicherheitsmaßnahmen offenbar überfordert sind.

Das Drama entfaltet sich auch in einer Studie der TU Berlin und des International Transfer Center for Logistics (ITCL) im Auftrag der World Cargo Center GmbH vom Herbst 2009. Die unter 54 "Reglementierten Beauftragten" und "Bekannten Versendern" erhobene Umfrage zu Sicherheitslücken in der Luftfracht-Lieferkette kommt zum selben Fazit wie die WIT/TH Wildau-Studie: „Noch existieren gravierende Sicherheitslücken, die sich durch alle Bereiche der Supply Chain ziehen.

Die Kritik:

  • isolierte Sicherheitsinseln,
  • fehlende lieferstufenübergreifende Konzepte,
  • mangelndes Sicherheitsbewusstsein der Mitarbeiter,
  • Unkenntnis über den Sendungsverlauf,
  • mangelnde Kontrollen in den Frachtzentren,
  • unzureichende Überwachungstechnik in den Frachtzentren.

Geradezu aberwitzig ist die Feststellung, dass viele „bekannte Versender“ offenbar davon ausgehen, dass ihre Fracht am Flughafen einer Kontrolle unterzogen wird.

Dabei bürgen sie selbst mit ihrer Unterschrift auf der Sicherheitserklärung für die Sicherheit ihrer Fracht!

Im Fokus stehen wiederum kleine und mittelgroße Logistikdienstleister: Während 83 Prozent der Industrieunternehmen mit hohem Exportanteil Sicherheitsvorkehrungen als integralen Bestandteil der logistischen Abläufe betrachten, sagen das von sich nur 59 Prozent der Dienstleister.

Und: Auf die TU-Frage „Wir fangen grade erst an, uns mit Sicherheitsthemen zu beschäftigen“ antworteten 40% der „bekannten Versendern“ mit Ja.

Und das soll eine sichere Lieferkette sein?

Egal, alles legal: Das EU-Recht

Das deutsche Luftsicherheitsgesetz (LuftSiG) von 2005, geändert 2009, ist nur ein Teil des Rechts, das für die Luftfracht gilt. Entscheidend sind internationale Abkommen (European Civil Aviation Conference/ECAC Doc. 30 und International Civil Aviation Organisation/ICAO Annex 17) und vor allem die bisher geltende EG-Verordnung 2320/2002 und die neue Version 300/2008.

Die Verordnung von 2002 wurde mit sehr heißer Nadel und mit wenig Input der betroffenen Wirtschaft gestrickt - eine Reaktion auf die Terroranschläge von 2001. Die "Verordnung 300" ist nun die Nachbesserung. Aber diese beruht genauso auf einer Fiktion dersicheren Lieferkette“ und des "dezentralen Sicherheitskonzept" wie die alte und hat ebenfalls nicht den Sachverstand der betroffenen Wirtschaft voll einbezogen.

Immerhin: Die neue EG-VO 300/2008 schreibt vor, dass "bekannte Versender" durch das LBA eine Zulassung beantragen und in einer Datenbank gespeichert werden müssen. Das ist theoretisch seit Mai 2010 der Fall, praktisch aber gibt es eine Übergangsfrist bis März 2013. Im Klartext: Bis dahin bleibt alles beim Alten. Die beteiligten Unternehmen haben einen Rechtsanspruch darauf. Sicherheit auf dem Papier genügt.

Fehlendes Kontrollpersonal und Hickhack um Zuständigkeit

Für die Öffentlichkeit ziemlich unverständlich ist das deutsche Gezerre um die Zuständigkeit - die sich nämlich Innenministerium (Bundespolizei), Verkehrsministerium (Luftfahrtbundesamt, LBA) und auch das Finanzministerium (Zoll) teilen. Genau genommen sind es mit allen nachgeordneten Behörden auch der Länder rund 20 zuständige Behörden.

Die Luftfrachtsicherheits-Zuständigkeit in einer Hand zu bündeln, ist also eine Herkulesaufgabe.

Die beste Variante wäre vermutlich ein völlig neues Bundesamt für Luftsicherheit, aber im Moment scheint die Diskussion eher dahin zu gehen, der Bundespolizei die Aufgabe zuzuschieben. Die hat zwar durchaus einige vom LBA geschulte Beamte dafür, aber nicht unbedingt großes Interesse an der Aufgabe. Aus Eigeninteresse hebt Innenminister de Maiziere trotzdem den Finger, schließlich kann er so den Personalabbau bei der Bundespolizei stoppen. Deren Personalüberhang ist schon länger ein Problem. Anders beim Verkehrsministerium, das zwar die Zuständigkeit hat, aber viel zu wenige Beamte für Kontrollen.

Auch auf EU-Ebene nutzt de Maizière die Gelegenheit, um die Karten neu zu mischen, liest man in der Süddeutschen:

Thomas de Maizière forderte in Brüssel, die Zuständigkeiten zu prüfen. Sie seien in Europa 'zersplittert'. Sie müssten künftig 'von einer Hand geführt werden'. Was er damit meinte, ließ er offen. Hinter der Forderung nach einer verbesserten und europaweit einheitlichen Sicherung der Luftfracht, verbirgt sich auch eine institutionelle Auseinandersetzung. Die Innenminister wollen die Verantwortung für die Sicherheit der Luftfracht in die Hand bekommen. Gegenwärtig liegt sie noch bei den Verkehrsministern, die für alle Aspekte des Luftverkehrs zuständig sind. Die Experten für die Bekämpfung von Terrorismus unterstehen aber den Innenministern. So drängen einige Innenminister die Kommission bereits, die Zuständigkeit für die Luftsicherheit von Verkehrskommissar Sim Kallas auf Innenkommissarin Cecilia Malmström zu übertragen. Die Arbeitsgruppe, die paritätisch aus Innen- und Verkehrspolitikern gebildet wird, soll darum auch eine Veränderung der Kompetenzverteilung in der EU prüfen.

Aus dem Verkehrsressort hörte man zum Thema Luftfrachtsicherheit zunächst wenig, dann schien Verkehrsminister Peter Ramsauer durchaus bereit, die Verantwortung für die Luftsicherheit an die Bundespolizei abzugeben, "Ressortegoismen" solle es nicht geben. Wenige Tage später schien der Minister sich das anders überlegt zu haben. Liest man die Aussagen seines Staatssekretärs Andreas Scheuer im Handelsblatt, sieht es eher so aus, als wolle Ramsauers Ressort unbedingt die Zuständigkeit für die Sicherheit im Luftverkehr behalten; zudem warnt Scheuer vor "übertriebenen Sicherheitsmaßnahmen im internationalen Luftfrachtverkehr", sorgt sich um den „Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen“ und kritisiert die Ankündigung des Innenministers de Maiziere, das müsse eben teurer werden, und im Zweifel Warenströme seien einzuschränken, wenn im Gegenzug die Sicherheit in der Luftfracht steige. Klingt so, als hätten bestimmte Interessengruppen beim Ministerium interveniert.

Die Kosten für bessere Kontrollen sind enorm - und wer zahlt?
Die Politik macht es sich einfach: "User pays"


Wie die aktuelle PwC-Umfrage zeigt, rechnet die Luftfahrt- und Logistikbranche bereits, dass eher noch mehr Verantwortung auf sie abgeschoben wird. Die Politik macht es sich einfach: „User pays“ – wer Fracht verschickt, soll eben auch die Sicherheitskosten tragen.

Ist das so richtig? Luftsicherheit ist eigentlich Aufgabe des Staates, ganz besonders wenn es um Terrorismus geht -- und den Schutz von Bürgern, die in Passagier-Jets oben auf der riskanten Fracht mitfliegen.

Es geht eben nicht nur um reine Frachtflugzeuge. Irgendwo zwischen einem Drittel bis über die Hälfte der Fracht (die Angaben sind widersprüchlich) wird bei uns in Passagiermaschinen eingeladen - also unter den Sitzen ahnungsloser Fluggäste. Tendenz sehr stark steigend.

Der Wirtschaft die Sicherheitslast zu übertragen, macht auch den Bock zum Gärtner. Luftfracht lebt vom Tempo des Umschlags, Luftfracht ist teuer, und es gibt einen harten Preiskampf. Die Weltwirtschaft lebt von Just-in-time-Lieferung. Vor allem bei teuren Waren (etwa Elektronik, Ersatzteile für Maschinen, Medikamente oder hochwertige Lebensmittel): Nach Volumen werden 98 Prozent aller Waren verschifft, nur zwei Prozent geflogen; rechnet man jedoch nach Warenwert, werden 40 Prozent in der Luft transportiert, so die SZ. Manche Airlines machten daraus ein ertragreiches Geschäft – einige erzielen bis zu einem Drittel ihrer Einnahmen aus dem Warentransport. Klar, dass Sie den Zeitvorteil nicht aus Sicherheitsgründen reduzieren wollen. Brisante Ideen von Politikern, etwa die Fracht einen Tag am Boden zu lassen, bis alles von Hand kontrolliert ist, werden komplett abgelehnt – das ist "undenkbar", das "kann man völlig vergessen", bringt es der Luftfahrtjournalist Andreas Spaeth im Tagesschau-Interview auf den Punkt.

Die führenden Fluggesellschaften haben großen Einfluss in Berlin und Brüssel und wehren alleinige Verantwortung für teure Kontrollen ab. Die Flughäfen sind ebenso nah an der Politik und sorgen dafür, dass bei ihnen kein "Flaschenhals" für Fracht-Kontrollen entsteht -- dafür existiert gar nicht die Infrastruktur. Man bräuchte nochmals die Größe des gesamten Frankfurter Flughafens, um alle dort verschickten Pakete zu screenen, so Verkehrs-Staatssekretär Klaus-Dieter Scheuerle jüngst auf dem Unternehmertag des Deutschen Speditions- und Logistikverbandes (DSLV). „Das ist völlig undenkbar", zitiert ihn die Verkehrsrundschau.

Übrigens sprach Scheuerle dort auch von einer „Scheinsicherheit“ in der Luftfracht. Er muss es ja wissen.

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