Mittwoch, 5. Januar 2011

Datengetriebener Politikjournalismus: Mittel gegen "leisen Tod der Fachpolitiker"?


Einen kritischen Einwurf zum Politikjournalismus und ein lesenswertes Plädoyer für neue Wege hat der langjährige Handelsblatt-Parlamentskorrespondent Maximilian Steinbeis bei Carta und im Fachmagazin politik und kommunikation formuliert.

Im Beitrag „Die Story sichtbar machen“ setzt er sich mit dem Drang von Politikjournalisten auseinander, aus allem "eine Geschichte" zu machen, und zwar vor allem ein Persönlichkeiten-Drama.

Wohlfeile Kritik, kennen wir. Aber er setzt auch eine Alternative dagegen: einen politischen Journalismus, der eher wie guter Fachjournalismus funktioniert, der sich Zahlen, Daten, Fakten vorknöpft, Expertenwissen für die Bürger zugänglich und verständlich macht.

Wer Politik für die Öffentlichkeit zugänglich machen wolle und das durch Geschichtenerzählen nicht mehr hinbekomme, der müsse sich nach anderen Möglichkeiten umsehen. Steinbeis verweist auf den Trend „data journalism“, das Zugänglichmachen von gewaltigen Datenmengen durch Navigationshilfen und Visualisierung.

Eine gute Einführung zum "data journalism" bietet der britische Guardian, der sich damit profilieren will.

Nicht nur Wikileaks-Kriegsprotokolle aus Afghanistan eigneten sich für "data journalism", so Steinbeis. Auch beispielsweise die Hartz-IV-Debatte sei anders als bisher darstellbar. Einfach sei so etwas nicht: "Sicher, die Daten sind nicht sauber tabellierbar und nur schwer automatisch zu verarbeiten. Aber umso mehr gäbe es für gestandene Politikjournalisten zu tun." Steinbeis folgert:
Der neue Politikjournalismus ist nichtlinear, und er ist visuell. Er versorgt die Leser mit Orientierung, damit sie im Dschungel der politischen Lösungsvorschläge ihren eigenen Standpunkt finden und markieren können. Er kartografiert die politische Meinungslandschaft. Er ist nützlich. Er wird gebraucht. Er ist relevant. Und spannend ist er obendrein.
Steinbeis wirbt hier mit dem Begriff Visualisierung natürlich nicht nur für die klassische Infografik, sondern für sein 2008 gestartetes Projekt "Politikatlas - Politische Kontroversen kartografieren". Mit Hilfe der Vodafone Stiftung konzentriert sich sein Team derzeit auf interaktive Visualisierung der Schulpolitik in Deutschland.

Steinbeis hat im Übrigen durchaus kein Problem mit Geschichtenerzählen per se. Er hat sich ja auch als Schriftsteller profiliert. Andererseits ist Steinbeis von Haus aus Jurist. Wie sich Jura, Journalismus und Erzähldichtung vertragen, kann man in seinem Buch „Die Deutschen und das Grundgesetz. Geschichte und Grenzen unserer Verfassung“ bewerten. Lesenswert ist auch immer sein Verfassungsblog.

Ob man nun Steinbeis' Politikatlas mit seinen "neuen visuellen Darstellungsformen für politische Debatten" für das journalistische Hochamt der Zukunft hält oder nicht, das aktuelle Plädoyer im Beitrag „Die Story sichtbar machen“ legt jedenfalls den Finger in die richtige Wunde. Und: Visualierung ist dabei nur einer von vielen Aspekten.

Frust im Politikjournalismus

Steinbeis schreibt über den Frust der Politberichterstatter:
Wir Politikjournalisten sind gewohnt, es als Problem der Politik zu betrachten, wenn sie „keine Geschichte“ ist: Was können wir dafür, wenn die in Brüssel solche Langweiler sind? Wenn die immer nur Kompromisse aushandeln, anstatt die Entscheidung auf ein sauberes Entweder-Oder zuzuspitzen, ein Dafür-oder-dagegen, mit dem man tüchtig Spannung erzeugen kann? Wie soll man eine Geschichte erzählen, ohne Spannung? Dann kommen sie halt nicht vor in der Zeitung, sind wir gewohnt zu sagen. Ist doch nicht unser Problem. 
Das Dumme ist nur: Diese schöne zugespitzte Entweder-Oder-Situation, die wir so nötig brauchen für unseren Job, die gibt es in der Politik immer seltener. Nicht nur in Brüssel, auch in Berlin: Zwischen zwei bis drei Koalitionspartnern, fünf Parteien, sechzehn Ländern und tausend Verbänden, Experten und Interessenvertretern wird in Berlin längst genauso viel verhandelt und konsultiert wie in Brüssel. (...)
Uns kommt unser Gegenstand, die Politik, abhanden. Und das ist leider durchaus unser Problem. Eine Zeitlang haben wir geglaubt, wir kämen damit davon, dass wir „personalisieren“, also das Drama in den handelnden Figuren suchen. Das kann man machen. Aber nicht, wenn es sich bei der handelnden Figur um, sagen wir, Ronald Pofalla handelt.
Das führt dann, so Steinbeis, zum zynisch-sarkastischen Tonfall der Medien ("alles Idioten in Berlin"). Und dazu, dass sich die Journalisten die Spannung einfach selber machen:
Wir bürsten auf Krawall und machen aus jeder Meinungsverschiedenheit einen Riesenkrach und aus jeder Auseinandersetzung um den richtigen Weg in der Hartz-IV-Reform eine "Meuterei gegen von der Leyen" und verfehlen damit sowohl das Thema als auch das Leserinteresse: Als ob das außerhalb der Hauptstadtdunstglocke irgendjemand interessieren würde, wenn irgendein langweiliger Politiker Ärger mit irgendeinem anderen langweiligen Politiker hat.
Den Lesern die Schuld zu geben sei nicht sinnvoll. Diese seien nicht so indifferent und politikverdrossen, wie Journalisten glauben, sie sind nur der "Scheinkonflikte und Albernheiten" müde.

Daten-Journalismus ist Recherche-Journalismus

Das heißt vor allem: Journalisten sollten Zahlen, Daten, Fakten auswerten und interpretieren. Journalisten sollten sich nicht nur mit Persönlichkeiten und ihren Familienfehden beschäftigen, sondern mit Dokumenten, Protokollen, Statistiken, Bilanzen. Weil da die politischen Entscheidungen nachzuvollziehen sind. Zumindest wenn man auch die Akteure und ihre Interessen kennt, die dahinter stehen. Wer das vernachlässigt und nicht recherchieren will, lässt echten Journalismus einschlafen.
  • Eine Einsicht, die nicht neu ist. Darauf bestehen ja auch Initiativen wie Netzwerk Recherche. NR beklagt, dass Journalismus "zunehmend zur Kommentierung von Marketing" verkomme. "Recherche ist d a s Qualitätsscharnier für einen soliden Hintergrundjournalismus. Ohne kritische Analyse und unbequeme Wahrheiten erstickt die Demokratie im Allgemeinen und Ungefähren." NR gibt dafür der "florierenden PR-Industrie" ebenso die Schuld wie den ökonomischen Prioritäten von Sendern und Verlegern, der Isolation recherchierender Journalisten wie auch den "Informations-Blockierern" in Institutionen und Unternehmen.
Zu viele Journalisten haben verlernt, auf dem "paper trail" zu recherchieren. Weil sie nie in einen Haushaltsplan geschaut haben, um die Haushaltstitel zu sichten. Die keine Parlamentsprotokolle durchstöbern oder Gesetzestexte mit Referentenentwürfen oder Positionspapieren von Verbänden vergleichen. Von weniger öffentlichen Papieren mal ganz abgesehen.

Selbst wenn sie die Papiere finden, können sie sie nicht lesen und verstehen. Das ist ihnen entweder zu mühsam, oder sie sind darin nie ausgebildet worden.

Natürlich hängen Papier und Personen zusammen. Rechercheerfahrung zeigt: Papier führt zu Menschen, und Menschen führen zu Papier. Man muss Leute aufspüren, die die Texte und Daten zu interpretieren helfen. Umgekehrt ist jedes Interview oder Hintergrundgespräch besser, wenn der Journalist vorher recherchiert hat und die Texte und Daten kennt und versteht.

Steinbeis' Artikel ist daher auch als Plädoyer für Recherche-Journalismus zu verstehen, auch wenn er mit seinen Argumenten freundlicher daherkommt als Netzwerk Recherche. Es liegt auf der Hand, dass man für Recherche-Journalismus bestimmte Fähigkeiten braucht und sich vor thematischer Spezialisierung, vor Tiefe statt Breite, nicht fürchten darf.

Anders gesagt, es geht um eine Art Politik-Fachjournalismus, in dem die Sache im Vordergrund steht. Fachjournalismen gibt es in vielen Kategorien – vom Spezialisten in großen Redaktionen bis zum populären TV-Magazin, von der Branchenfachpresse bis zum Internetportal für Experten oder Wissenschaftler.

In manchen "Fachjournalismen" geht es auch vorrangig um Persönlichkeiten, z.B. Sport und Kultur, manchmal auch Wirtschaft (welcher Manager mit wem...). In anderen sind die Persönlichkeiten eher zu vernachlässigen.

Aber: Ein Reporter beim Bundesverfassungsgericht soll keine Story darüber erzählen, welcher Richter mit welchem Anwalt ein Hühnchen zu rupfen hat – es sei denn, es ist wirklich wichtig. Im aktuellen Dioxineier-Skandal braucht es keine "Geschichte" als Drama über persönliche Animositäten zwischen dem Geschäftsführer einer Futtermittelfirma und seinem Lieferanten.

Nun ist ein Karlsruher Urteil oder ein handfester Giftskandal immer noch ein guter aktueller Aufhänger, das Drama ist eingebaut. Was aber, wenn es das nicht gibt? Auch hier müssen Fachjournalisten eine Antwort finden.

Ein Medizinjournalist, ein Umweltjournalist, ein Verbraucherjournalist, ein Technikjounalist, ein Wissenschaftsjournalist wird sich relativ wenig um Persönlichkeiten scheren. Ein bißchen "human touch" und "human interest" ist OK, aber das ist in den meisten Fällen schlicht ein Stilmittel und ganz sicher nicht die Story.

Solche Journalisten sind nur dann erfolgreich, wenn sie Expertenwissen für ein großes Publikum aufbereiten können und bei der Sache bleiben, was in den meisten Fällen heißt: "harte" Daten und Fakten. Plus Zusammenhänge. Auch die versteckten, die man erst finden muss.

Wer sich als Fachjournalist für Politik versteht, wird die handelnden Personen nie aus den Augen verlieren, klar. Er oder sie kümmert sich aber um die Zusammenhänge politische Entscheidungen, um Institutionen, Strukturen, Prozesse und Interessen. Muss das langweilig und abstrakt sein? Nein, aber es ist schwieriger, anstrengender, mühsamer Journalismus.

Natürlich geht es bei Politik immer auch darum, wer gewinnt und verliert. Aber Politikjournalismus als unterhaltsame Sportberichterstattung greift völlig zu kurz. 

Eine solche lädt immer nur zu mehr oberflächlicher Inszenierung und Spindoctoring ein – statt zu ernsthafter Auseinandersetzung. Um diese bemühen sich Politiker ja durchaus. In der heutigen Medienlandschaft ist es nachvollziehbar, dass sie Medien-Politik und Sach-Politik möglichst auseinander halten wollen. Für die Demokratie, für die Gesellschaft und die Wirtschaft ist das allerdings überhaupt nicht gut.

"Uns kommt unser Gegenstand, die Politik, abhanden", sagt Steinbeis. In der Tat. Wie und warum politische Entscheidungen zustande kommen, und was sie bedeuten, das wird in den Medien immer weniger abgebildet. Politiker, Beamte und Lobbyisten wissen das übrigens sehr gut, weshalb sie oft lieber hinter verschlossenen Türen arbeiten, damit der Medienzirkus draußen bleibt.

Generalisten und Fachleute

In der Politik gibt es, wie in den Medien, Generalisten und Fachpolitiker. Die Generalisten sind für die strategische Führung, für die Moderation, fürs Management und eben für die Show verantwortlich. Sie machen Karriere. Die Fachpolitiker werden, wenn sie gut sind, zwar auch geschätzt, aber für ihre Karriere gibt es Grenzen, wenn damit Bekanntheitsgrad, Popularität und die höchsten Staatsämter gemeint sind. Hoher fachlicher Einfluss auf Geld und Gesetze ist oft dort, wo die Kameras und Mikrofone nicht sind.
  • Das von Steinbeis angeführte Beispiel Brüssel ist sehr treffend. Brüssel-Korrespondent zu sein, war für den jungen Steinbeis ein Traum – für die meisten seiner Kollegen nicht.  So ist es auch bei Politikern: Wer großen Einfluss aufs tatsächliche Gesetze-Machen haben will, ist oft im Europäischen Parlament besser aufgehoben als als Hinterbänkler im Bundestag.  
  • Der Preis dafür ist meistens null Bekanntheit und Medienaufmerksamkeit, was dann wiederum zu Nachrangigkeit in der eigenen Partei führt. Das kann ein Karrierekiller sein.
  • Umgekehrt haben Bundestagsabgeordnete viel besseren Zugang zu den Medien – aber umgekehrt ist der fachliche Einfluss in vielen (nicht allen) Politikbereichen tendenziell geringer. 
  • Eine Konsequenz ist, dass sich Bundestagspolitiker im Zweifelsfall dafür entscheiden, vorrangig als "Kümmerer" ihrer Wahlkreise Profil zu sichern. Wer nicht ganz vorn im bundesweiten Medienzirkus mitspielen kann, muss wenigstens in der Provinz der König sein. 
  • Für die Exekutive ist das relativ bequem, und für das Parlament insgesamt schlecht.
Sich zwischen Einfluss und Bekanntheit entscheiden zu müssen, ist für Politiker eigentlich irrwitzig. Das eine sollte mit dem anderen Hand in Hand gehen. Tut es aber häufig nicht. Das Ergebnis ist dann möglicherweise das, was die Wiener Zeitung vor einiger Zeit den "leisen Tod der Fachpolitiker" genannt hat:
Früher einmal gab es die Institution "Bundesnotwendigkeit": Damit wurde von den Parteiführungen die Reihung von Experten auf wählbaren Listenplätzen begründet. Heute dagegen ist mit Fachwissen und Expertise allein längst kein Mandat mehr zu machen, es zählen andere Qualitäten. Ob es die Besseren im Sinne der Qualität unserer Volksvertretung sind, darf bezweifelt werden. Was bleibt vom Hohen Haus, wenn es weder zur politischen Bühne noch als Arbeitsparlament taugt?
Gute Frage. Eine, die sich nicht nur Parteiführer, sondern auch Politikjournalisten stellen müssen. Denn zweifellos gestalten die Medien die Karriere- und Arbeitschancen der Fachpolitiker mit. Je weniger sich Journalisten um die Sache kümmern, desto weniger Politiker kümmern sich um die Sache.

Das klingt grotesk, ist aber auch die Realität der Symbiose zwischen Politik und Politikjournalismus. Die Formel ist ganz einfach:
  • Journalisten mit Expertenwissen arbeiten vorrangig mit Politikern mit Expertenwissen.
  • Journalisten ohne Expertenwissen arbeiten vorrangig mit Politikern ohne Expertenwissen.
Dem jeweils bevorzugten Partner geben sie Informationskanäle, Raum zur Kommunikation, Status und Wichtigkeit.

Wenn uns die Journalisten und Politiker mit fachlicher Tiefe abhanden kommen, bedeutet das natürlich nicht das Ende der Expertise. Die wird in einer hochgradig komplexen Welt immer wichtiger.

Man darf sich dann nur nicht wundern, wenn die Expertokratie nur noch aus Beamten, Lobbyisten, Beratungsfirmen, outgesourceten Denkfabriken und gesichtslosen Profizirkeln besteht, in der die politische Kontrolle (und Mitgestaltung) durch Parlamente und Öffentlichkeit gering ist.

Dass sich das Bürger und Interessenverbände dauerhaft gefallen lassen, darf man indes nicht erwarten. Und für manche Medien und manche Journalisten, die Max Steinbeis' Philosophie folgen, ist genau das eine Chance. Nicht zuletzt via Internet und Grassroots-Kampagnen.

Die Chance haben auch Lobbies (ob Wirtschaft oder NGO), die den fachlichen Diskurs in die Öffentlichkeit tragen und Druck erzeugen, der für die showorientierten Allround-Journalisten und Allround-Politiker reichlich unbequem sein kann.

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