Der Film zählt die bekannten Beispiele auf: Gerhard Schröder, Joschka Fischer, Otto Schily, Matthias Berninger, Birgit Fischer, Marianne Tritz. Ein Interview bekam er nur von Schily. Die anderen zeigten sich genervt und wehrten ab -- kein Wunder, gilt Lütgert doch als ebenso penetrant, unfair wie tendenziös. Über den bisweilen stark zur Selbstinszenierung neigenden Reportagestil lässt sich zweifellos streiten. "Lütgert, der Rächer der linken Liebeskranken", witzelt die Welt und kritisiert eine "allzu spekulative und reißerische Aufmachung". Lütgert inszenierte sich "wie eine Reporterversion von Columbo". Stellenweise sei die Reportage "Investigativ-Journalismus auf niedrigem Niveau".
Jenseits der Stilkritik und der Tatsache, dass Lütgert viel behauptet und wenig beweist: Interessant für die Seitenwechslerdebatte ist jedoch Lütgerts Spin auf den Umweltschutz.
Neben Joschka Fischers Aufgaben als Nachhaltigkeitsberater, etwa für BMW, steht im Fokus Gerhard Schröders Position als im Board of Directors des russisch-britischen Joint-Venture-Unternehmens TNK-BP. Der Altkanzler ist seit 2009 einer von drei "unabhängigen Direktoren", neben dem britischen Stahlmanager und Investor James Leng (Rio Tinto, Tata) und dem Moskauer Unipräsidenten Aleksandr Shokhin, der früher einmal Vizepremier war und heute nebenbei einen Industrieverband führt.
Anders als Schröders Aufsichtsratsposten bei der von Gazprom geführten Ostsee-Pipelinegesellschaft NordStream ist der Vorstandssitz bei TNK-BP, immerhin einer der größten Ölkonzerne der Welt, bisher kaum thematisiert worden. Lütgert richtet den Scheinwerfer genau darauf. Während die weitgehend theoretische Umweltkritk an der uns geographisch so nahen Pipeline vergessen ist (derzeit wird nur über den Bau berichtet), zeigen Lütgerts Bilder aus der westsibirischen Region Samotlor eine durch die Bohrlöcher und Ölverschmutzungen verwüstete Landschaft. Ein russischer Umweltaktivist nennt dies im Interview eine "stille Katastrophe", die größer sei als die im Golf von Mexiko.
TNK-BP leugnet das Drama und den gewaltigen Sanierungsbedarf nicht, weder im Nachhaltigkeitsbericht (Website CSR/Corporate Citizenship und Website zu Umweltfragen) noch in Lütgerts Interview mit einem der Konzernmanager. Die Investitionen im Umweltschutz wirken allerdings vergleichsweise bescheiden. Die Top-Prioritäten liegen woanders. Soweit es Druck von Politik, NGOs und Zivilgesellschaft sowie Medien gibt, hat Samotlor jedenfalls noch keine Skandalstärke erreicht.
Lütgert wirft nun die Frage auf, was Gerhard Schröder denn dafür tue, schließlich sitze er im Board-Ausschuss für Umwelt und Sicherheit (Health, Safety and Environment (HSE) Committee). Schröder selbst lässt Lütgert wissen, er kenne die von Lütgert besuchte Region Samotlor gar nicht. Eine Konzernbroschüre aber sagt, er habe die Förderregion bereist, und der TNK-BP-Manager bestätigt auch, dass das Board in der Region unterwegs war. Die Widersprüche werden aber nicht aufgelöst, weil Schröder ein Interview verweigert.
Nun, das Ausmaß der Öko-Probleme ist erschreckend -- wie in vielen Ölgebieten rund um die Welt. Zu Recht werden die Förderunternehmen dafür verantwortlich gemacht, und das bezieht auch einen "independent director" wie Schröder ein. Lütgert schiebt in seinem Film genüsslich Ausschnitte aus dem früheren Leben Schröders ein, wie er sich in Reden für die Umwelt starkmacht. Einer von vielen Versuchen in der Reportage, die Glaubwürdigkeit der rot-grünen Seitenwechsler zu erschüttern und den Verrat an den Werten zu beweisen. Wobei Schröder eigentlich nie zu unterstellen war, dass ihn die Umweltpolitik besonders umgetrieben hätte.
Nun ist die Frage zu stellen, wie relevant das eigentlich ist. Schröder ist eines von 11 Board-Mitgliedern (4 von BP, 4 vom Alfa-Access-Renova-Konsortium, 3 unabhängige). Ganz sicher haben sich die Anteilseigner nicht auf Schröder geeinigt, weil sie unbedingt einen Umweltexperten brauchten, sondern einen Diplomaten.
Von Schröder versprach man sich seinerzeit, dass er den heftigen internen Zwist zwischen BP und den im AAR-Konsortium verbundenen russischen Ölmagnaten befrieden könne (dazu z.B. NY Times). Zudem zählen seine Verbindungen zu Putin & Co., denn TNK-BP hatte reichlich Schwierigkeiten mit der Regierung (kein Wunder, dass der Konzern eine 36-köpfige Abteilung für Government Relations unterhält, die Ex-Politiker und Lobbyisten im Board nicht mitgezählt).
Sicher, Schröder ist ein Aushängeschild für TNK-BP, er wirkt intern als Faktor des Interessenausgleichs und extern als Werbeträger. Wenn er seine Arbeit gut macht, für die er angeblich 200.000 Euro im Jahr kassiert, berät er das Management in den Fragen, von denen er etwas versteht. Und er kontrolliert die Unternehmensführung nach Kräften als Externer mit, im Sinne der Anteilseigner als auch darüber hinaus, denn Schröder ist nicht als Vertreter eines einzelnen Anteilseigners in dem Gremium.
Das wäre der Job. Dass zur guten Corporate Governance auch ein ernsthaftes Umweltbewusstsein und entsprechende Maßnahmen einschließlich offener Dialogkommunikation gehört, darf man anmerken. Aber für russische (!) Verhältnisse ist TNK-BP in dieser Hinsicht eigentlich fast ein Vorzeigeunternehmen.
Peter Unfried meint bei Spiegel Online, "dass Schröder tatsächlich wissentlich helfe, die Katastrophe zu vertuschen, wie insinuiert wird, das wäre noch zu beweisen." Er schreibt weiter:
"Unter uns: Soll inmitten einer apathisch zusehenden Welt ausgerechnet der mittlerweile schon sehr zerknitterte Rentner Schröder die sibirische Ölkatastrophe aktiv wuppen, wie es offenbar Lütgerts Anspruch ist - damit er sich sein Salär auch wirklich verdient? Da sollte man doch die Kirche im Dorf lassen."Der Anspruch wäre tatsächlich zu hoch. Allerdings bleibt anzumerken, dass es richtig ist, wenn Journalisten sehr konkret nachfragen, was prominente Ex-Politiker in einem solchen Vorstandsgremium tun und was sie überhaupt wissen, wenn es Missstände von internationalem Ausmaß gibt.
Der Unterschied zwischen irgendwelchen Beraterjobs zur "Nachhaltigkeit" und Schröders Board-Sitz bei TNK-BP ist, dass Joschka Fischers freche Aussage, er müsse nur dem Finanzamt Rede und Antwort stehen, stimmt; für eine Aktiengesellschaft wie TNK-BP und ihr Führungsgremium stimmt das aber nicht.
Das Board ist kein Beirat und kein freies Beraterteam, sondern ist Fixpunkt der Corporate Governance. Hier steht Schröder mitten in der Verantwortung für das Verhalten eines international bedeutenden Konzerns, der nach seiner Rechtsform zwingend öffentlich Rechenschaft ablegen muss -- und das ja offensichtlich auch will. Externe "non-executive directors" oder "outside directors" spielen auch deshalb für die gute Unternehmensführung eine wichtige Rolle, weil sie gesellschaftliche und politische Anliegen und Verhaltensstandards gegenüber den Executives vertreten.
Ob sie das nur intern tun und nach außen schweigen, oder ob sie sich an die Öffentlichkeit wagen, ist ihre Sache. Schröders Wahl ist nachvollziehbar: Als russlandfreundlicher Ex-Staatsmann hätte er die Statur, aber hat eben nicht das Interesse, die innerrussischen Umweltprobleme zu einem öffentlichen Politikum zu machen und dazu in westlichen Medien Interviews zu geben.
Dass Journalisten nachhaken, ist legitim. Darauf zu antworten, könnte man Schröder eher nicht raten, selbst wenn ihm das sibirische Desaster am Herzen läge. Er ist nicht zu TNK-BP gekommen, um extern zu zündeln, sondern um intern zu befrieden.
Würde er TNK-BP auch nur andeutungsweise wegen der Umweltschäden kritisieren, hätte er bei den Anteilseignern seine Funktion als Moderator verloren und damit auch jeglichen positiven Einfluss (wenn er denn einen hat).
Davon abgesehen, stellen sich hier Haftungsfragen. Auch in Russland kann man für Umweltverschmutzung belangt werden. Würde sich Schröder als Board-Mitglied äußern, würde er der Rechtsabteilung des eigenen Konzerns wahrscheinlich ein Eigentor schießen.
Der Kreml munitioniert sich mit öffentlichen Äußerungen gern auf, um Oligarchen vor Gericht zu zerstören, wie man weiß. Und wer kann sagen, ob sich die beiden Eigentümergruppen künftig nicht doch wieder bekriegen und dann jedes Rechtsmittel gegeneinander einsetzen. Schröder ist nicht blöd; in diesem Minenfeld springt er nicht herum.
Sicher: Es gibt Non-Execs, die eine Rolle als Kritiker und Treuhänder öffentlicher Verantwortung nicht nur intern, sondern auch in den Medien und in aller Öffentlichkeit spielen, also prominente Mahner sind -- wenn ein Unternehmen sich denn traut, solche Leute überhaupt zu berufen (was die Glaubwürdigkeit enorm erhöhen kann, aber eben auch Ärger macht).
Wenn es dazu kommt, am ehesten in den USA oder Großbritannien, sind es oft Shareholder-Aktivisten, die so dank des Aktienstreubesitzes etwas durchsetzen. Das ist dann eben "Shareholder Democracy" und verlangt einen völlig anderen wirtschaftlichen, rechtlichen, politischen und kulturellen Kontext als den, den ein privater Ölkonzern in Russland hat. Bei einer von nur zwei Anteilseignern wie BP und der Milliardärsgruppe AAR getragenen Firma darf man das ohnehin nicht erwarten.
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