Donnerstag, 4. August 2011

GID: Eine traurige Bilanz für Gewerkschaften

Eine pointierte, aber auch traurige Analyse zu Lage, Selbstreformen, Strategie und Kommunikationspraxis der Gewerkschaften liefert Robert Lorenz auf dem Blog des (vom Kollegen  Franz Walter geleiteten) Göttinger Instituts für Demokratieforschung der Georg-August-Universität Göttingen.

In seinem Blog-Beitrag „Fusionitis und andere Reformen“ ist er sehr kritisch gegenüber den DGB-Gewerkschaften (und ihren Pendants in Österreich und den Niederlanden): Die meisten Reformen seien „kaum mehr als Rhetorik“ geblieben, mehr als „verheißungsvolle Ankündigungen“ lieferten die Gewerkschaften nicht – und eben keine Antwort auf sinkende Mitgliederzahlen und Organisationsgrade.

Bei der Modernisierung der Organisationsstrukturen und der Überarbeitung des politischen Programms scheiterten die Gewerkschaften ebenso wie an Kampagnen und Organizing-Konzepten. Auch das Heilmittel der Fusion führte nicht zu neuer Kraft, so Lorenz. Die Reformen waren seiner Auffassung nach „häufig unzureichend, ließen die Organisation erlahmen, täuschten sie über fortbestehende Defizite hinweg und schufen nicht selten neue Probleme.“

Organisationsreformen

Zur Organisations- und Programmarbeit kommentiert er:
Meist verliefen sich die Bemühungen in eigens gegründeten Kommissionen, die dann jahrelang an der Sache arbeiteten, dadurch das Reformvorhaben in bürokratischen Vorgängen erstickten und jedweden Elan verloren. Allein die Gewerkschaftselite profitierte eine Zeitlang davon. Denn sie konnte für sich Krisenbewusstsein und Tatkraft reklamieren, dokumentierte ihren Willen zum Wandel, zur Erneuerung, demonstrierte Handlungsfähigkeit. Im Hintergrund schritt der Verfall der Organisation jedoch unaufhörlich voran, gingen ungeachtet aller Reformprozesse die Mitgliederzahlen zurück, sank die Repräsentativität der Mitgliedschaft.
Die Werbekampagnen zur Neurekrutierung in den Betrieben seien ebenfalls nur vorübergehend von Erfolg gekrönt gewesen. Zwar seien die Beitrittszahlen gestiegen, doch „nie sonderlich hoch“, und die Werbeaktionen seien finanziell eine starke Belastung gewesen. Schließlich „gingen etliche der Neumitglieder wieder verloren, weil sich die Gewerkschaft im Anschluss an den Beitritt nicht mehr so intensiv um sie kümmerte wie in der Phase der Umwerbung.“

Regelrechte „Fusionitis“ unter westeuropäischen Gewerkschaften macht Lorenz für die Vergangenheit aus. Die Ziele seien Kostenabbau bei der Verwaltung und mehr Verhandlungsmacht in Tarifgesprächen und politischen Gremien, außerdem mehr Präsenz in gewerkschaftsfernen Branchen, vor allem im Dienstleistungssektor, zu zeigen. „Doch auch Fusionen waren eher verhängnisvoll als heilsam“, meint der Gewerkschaftsforscher. Sie kosteten viel Kraft und Zeit, und für die Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di stellt Lorenz Ineffizienz fest – zu viel Egoismus der beteiligten Altgewerkschaften, wenig neue Stärke bei der Politik- und Rekrutierungsfähigkeit. Lorenz meint: „So ist ver.di vermutlich die erfolgloseste Gewerkschaft der Welt, verlor jedenfalls seit ihrer Gründung im Jahr 2001 über 712.000 Mitglieder – fast die Hälfte sämtlichen Rückgangs, den der DGB seitdem verzeichnete.“

Kampagnen und das Faszinosum "Organizing"

Dann kommt Lorenz aufs „Organizing“ – jene kampagnenförmige, mitgliederförmige Basisarbeit, die in den USA und anderswo Erfolge für eine halbtot geglaubte Gewerkschaftsbewegung zeitigte. „Darin erblickten viele Gewerkschafter die Lösung all ihrer Probleme, einen deus ex machina.“ Auch für die europäischen Gewerkschaften sei dies ein „Faszinosum, dessen Anziehungskraft sich Gewerkschaften seither kaum entziehen können“, geworden.
Es verpflichtet die Organisationen auf eine energische Mitgliederorientierung, verlangt, dass der Apparat auf ein Minimum zurückgefahren und das verfügbare Geld in Rekrutierungsarbeit investiert wird. Geschulte organizer gehen in Betriebe, in denen es weder einen Betriebsrat, geschweige denn ein Gewerkschaftsmitglied gibt. Dort versuchen sie, ein Bewusstsein für die prekäre Arbeitsmarktlage und die schlechten Arbeitsbedingungen zu schaffen, zugleich aber in der kollektiven Solidarität der Beschäftigten und der Hilfe der Gewerkschaft die optimistische Perspektive eines erreichbaren Auswegs zu stiften.

Oft wird dies mit einem weiteren Element, dem campaigning, angereichert. Dabei suchen die arbeitskampfwilligen Beschäftigten den Kontakt zur ortsansässigen Bevölkerung, Politik und zu zivilgesellschaftlichen Einrichtungen oder Initiativen. Über die Medien soll dann Druck auf die Arbeitgeber ausgeübt werden. Bisweilen kann das betroffene Unternehmen sogar gegenüber seinen Geschäftspartnern diskreditiert werden, indem diese auf moralisch fragwürdige Praktiken und schlechte Arbeitsverhältnisse aufmerksam gemacht werden oder noch wirkungsvoller: davon aus den Medien erfahren. In den USA funktionierte das jedenfalls ganz gut.
Lorenz stellt jedoch fest, dass es in Deutschland und Österreich damit erhebliche Probleme beim Transfer gab. Ein wichtiger Punkt: Die „riesigen Apparate“ der Zentralen und Funktionärsestablishments stehen dem Organizing im Weg.  Gerade weil die Gewerkschaften zudem noch so viele Mitglieder haben und in korporatistischer und sozialpartnerschaftlicher Tradition eine enge Politik- und Institutionen-Verankerung hätten, sei das Organizing als Konzept fehlgeschlagen. Die großen Gewerkschaften seien „noch lange nicht verzweifelt genug, um ganz entschiedenes organizing zu betreiben.“ Lorenz analysiert außerdem:
Das vermeintlich erfolgversprechende Verfahren ist sehr teuer, aufwändig und lang, müssen die beschrieben Aktionen doch in jeder Schlecker-, Aldi- oder Billa-Filiale einzeln und aufs Neue durchgeführt werden. Große Rekrutierungsanstrengungen tragen den Gewerkschaften im Unterschied zu früheren Aktionen in industriellen Großbetrieben nicht mehr prompt drei- bis vierstellige Mitgliedergewinne ein. Außerdem erwarten die Neumitglieder auch nach den Anfangserfolgen, zu denen ein hoher gewerkschaftlicher Organisationsgrad in der Belegschaft und die Errichtung eines Betriebsrats zählen, eine annähernd intensive Betreuung durch die Gewerkschaft.
Lorenz‘ Resümee ist pessimistisch. Die Gewerkschaften hätten durchaus ein „Missstandsbewusstsein“ entwickelt und ihre Strukturen und Strategien anzupassen versucht. Das Ergebnis ist laut Lorenz mau: Die vielen Reformbestrebungen hätten sie häufig sogar zu einem Trugschluss verleitet, dass die Maßnahmen ausreichend und angemessen gewesen seien, „sodass die Energiezufuhr wieder gedrosselt werden konnte“.

Richtige Analyse, aber...

Seine Bestandsaufnahme mag richtig sein und die Praxis zu mehr Reflexion anhalten. Die Zuspitzung ist ein Markenzeichen der Göttinger Schule. Gleichwohl ist zu fragen, was denn die Alternative zu den kritisierten Reformen gewesen wäre, oder wie man sie - trotz der strukturellen Grundprobleme - erfolgreicher durchführen kann. Was die Kampagnen und das Organizing angeht, legt Lorenz den Finger in die richtige Wunde. Es ist sicher auch korrekt festzuhalten, dass diese keine Selbstläufer sind und das Commitment der Zentralen heute noch nicht als stabil und konsequent genug angesehen werden kann.

Dass gerade in diesem Feld viele Erfolge zu verzeichnen sind, sollte Lorenz aber nicht ausblenden. Nur drei Beispiele:
  • Sowohl die Thematik der "Pseudogewerkschaften" hat durch die Abwehrstrategien bei Arbeitgebern, Politik und Arbeitsgerichten hohe Sensibilität und ein Umdenken erzeugt, auch die Aufmerksamkeit in den Medien ist dafür groß - und verhilft den DGB-Gewerkschaften durchaus zu einem Imagebonus gegenüber der neuen Konkurrenz. 
  • Bei Lidl und Schlecker verhalten sich die Manager heute deutlich anders: Lidl unterstützt einen Mindestlohn im Handel, trotz des Murrens beim HDE. Bei Schlecker wurde ein Tarifvertrag und ein Ende der Mitarbeiterauslagerung erzwungen. 
  • Schließlich machen die neuen Aktions-, Kampagne- und Kommunikationsformen Gewerkschaften wieder präsenter und attraktiver, nicht zuletzt bei jungen Leuten.
Dass manche Gewerkschaften wie die IG Chemie eine völlig andere, stark kooperative Strategie fahren und an der traditionellen Sozialpartnerschaft festhalten, steht dem nicht entgegen. In jeder Branche sind nun einmal andere Lösungen gefragt.

Gegen die faktischen Auflösungstrends des Flächentarifvertrags konnten die Gewerkschaften nicht viel tun, auch nicht dagegen, dass das Einheitsprinzip "Ein Betrieb - ein Tarifvertrag" höchstrichterlich gekippt wurde (was auch der BDA nicht wollte). Aber wer nicht kämpft, hat schon verloren. Dass DGB und BDA dabei zu einer gemeinsamen Position gekommen sind, war jedenfalls bemerkenswert und hat auch bei der Politik Beachtung gefunden.

Weiterer Blogbeitrag
Die Flops der Online-Kampagne "Köpfe gegen Kopfpauschale" (Freitag, 19. November 2010)

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